Ein Buch mit 7 (oder vielleicht sogar 8…) Siegeln? Keineswegs! Andreas Ruthemann über seinen Zugang zum Yoga Sutra und die überraschenden Erfahrungen auf dem Weg dorthin.

Philosophie und Tradition

Im Laufe einer intensiven und regelmäßigen Ashtanga Yogapraxis kommt man früher oder später an den Punkt, an dem es interessant wird, sich mit den Yoga Sutren zu beschäftigen. Man hört und liest immer wieder davon, doch im täglichen Mysore-Unterricht findet die Philosophie in der Regel wenig Platz. Meine erste Lehrerin hat mich gelegentlich mit kleinen Philosophie-Häppchen angefüttert. Auch einer meiner späteren Lehrer meinte irgendwann, es sei an der Zeit, mal in die Sutren einzusteigen – und beließ es bei der Ankündigung. Ich nahm das so hin, wartete, aber nichts geschah.

 

Ein Buch mit 7 Siegeln

In meiner Vorstellung wurden diese Schriften damit immer mystischer und geheimnisvoller. Bei dem sogenannten achtgliedrigen Pfad des Yoga schien es sich offensichtlich um eine Art persönliches Geheimwissen zu handeln, das man sich holen und erarbeiten muss anstatt vergebens darauf zu warten, es auf einem Silbertablett serviert zu bekommen. Ich wurde immer neugieriger und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, kaufte mir eine Übersetzung, las sie in einem Rutsch durch – und staunte nicht schlecht.

Darauf war ich nicht gefasst gewesen: Erwartet hatte ich ein schweres, theoretisches und hochphilosophisches Werk, das man sich in jahrelangen Studien erlesen muss, um ein guter Yogi zu werden. Mythen, Gleichnisse, Wunder. Oder das schrittweise akademische Abarbeiten der acht Stufen bis hin zu samadhi, der Erleuchtung.

Der Blick in den Magischen Spiegel

Zu meiner Überraschung war es das glatte Gegenteil. Was ich las, war trotz des hohen Alters des Textes zeitlos, pragmatisch und sehr nah am Leben. Unterm Strich fand ich in diesem Buch haargenau beschrieben, was unter der Oberfläche in uns passiert, wenn wir regelmäßig und diszipliniert Yoga üben. Nicht mehr und nicht weniger.

Damit meine ich nicht nur Erfolge, Fortschritte oder gar die Erleuchtung, sondern auch all die Unwegsamkeiten, Widerstände und inneren Auseinandersetzungen, mit denen wir alle zu kämpfen haben und die in den Texten mehr oder weniger vorausgesagt oder bestätigt werden.

 Es kam mir so vor, als hätte jemand die Ups und Downs meiner Yogapraxis der letzten Jahre beobachtet und kommentiert. Das war fast schon ein bisschen unheimlich – wie der Blick in einen magischen Spiegel. Die Worte von Pattabhi Jois „Do your practice and all is coming” hatte ich bisher nur auf die Fortschritte in der Asanapraxis bezogen. Nun hatte ich eine Ahnung, dass er buchstäblich ALLES gemeint haben muss.

Als später während meiner ersten Ausbildung eine ganze Reihe von Sutren intensiver besprochen wurden, erkannte ich, dass sie sehr viel mehr mit individueller Erfahrung als dem reinen Wortlaut zu tun haben. Sie trafen interessanterweise immer zu – allerdings für jeden Einzelnen mit ganz unterschiedlicher und sehr persönlicher Bedeutung

Keine Landkarte oder Abkürzungen

Da sich der achtgliedrige Yogaweg so individuell gestaltet, ist er offensichtlich mit dem Verstand allein nicht zu erklären oder zu begreifen. Es gibt dafür weder eine Landkarte mit genauer Wegbeschreibung noch eine Abkürzung. Er eröffnet sich allein durch die Erfahrungen aus unserer persönlichen Yogapraxis und breitet sich vor unseren Füßen aus, sobald wir uns in seine Richtung bewegen. Und je entschlossener unsere Schritte sind, desto klarer wird er.

Unterwegs können wir abenteuerliche Veränderungen unserer Wahrnehmung erleben – in der Sicht auf unsere Umwelt wie auch auf uns selbst. Auf meiner persönlichen Reise ins Innere fallen immer wieder starre Schutzschilder, schlechte Angewohnheiten und alte Glaubenssätze wie Ballast von mir ab. Und fast nie waren sie mir vorher bewusst, allesamt blinde Flecken.

Diesen Prozess begleitet häufig ein innerer Dialog: Wenn mein Verstand sich im Alltag selbstständig macht und lautark seine alten Muster abspult, meldet sich nun manchmal unerwartet eine innere Stimme. Genau die Stimme, die während der Asanapraxis mahnt, auf die Atmung zu achten, Grenzen zu respektieren und ruhig zu beobachten, hat sich offensichtlich von der Matte ins Leben geschlichen. Sie hakt nach, stellt den Verstand zur Rede, provoziert, fordert Antworten und bringt ihn nicht selten zum Schweigen oder Umdenken. Manchmal setzt sie sich sogar komplett über ihn hinweg – solche Momente hauen mich nach wie vor schlicht um.

Ein Beispiel:

Ich arbeite in meinem Büro, einem kleinen Ladengeschäft an einer Straßenecke. Ich sitze am Rechner, neben mir liegt mein Hund Basti schlafend in seinem Körbchen. Wie so oft geht eine Frau mit ihrer kleinen Tochter vorbei. Das Mädchen ist offensichtlich in Basti verliebt und drückt sich regelmäßig die Nase an der Fensterscheibe platt.

An einem normalen Tag: Hund bellt, ich schimpfe, Mutter zerrt Kind weg, alle sind genervt bis enttäuscht. An diesem besonderen Tag: Hund bellt, ich schaue auf, will innerlich zum Schimpfen ansetzen. Doch zu meiner Verblüffung beobachte ich mich selbst, wie ich aufstehe, zur Tür gehe und das Mädchen frage, ob sie mal meinen Hund streicheln möchte. Alle sind froh und dankbar, ich selbst am meisten.

Die Verwandlung

Nach diesem Erlebnis war ich ein bisschen sprachlos. Rückblickend würde ich sagen: Das war Yoga. Wie ferngesteuert hatte ich mich entschieden, mich nicht zu ärgern und stattdessen auf das Mädchen zuzugehen und ihm einen Wunsch zu erfüllen. Den Rest des Tages konnte mich nichts mehr vom Lächeln abbringen. Erfahrungen wie diese sind für mich die beste Bestätigung, dass sich all die Zeit im Yogastudio nicht bloß positiv auf den Körper auswirkt.

Wenn ich solche Veränderung an mir selbst beobachte, bin ich überzeugt, dass Ashtanga Yoga nicht umsonst häufig als transformative Yogaform bezeichnet wird. Das Spannende daran ist, dass es die Menschen wie von selbst klarer, offener und echter werden lässt. Und dass dieser Prozess ganz individuell im Verborgenen stattfindet, die Verwandlung nach einer Weile aber umso sichtbarer wird. Bei jedem – auch bei denen, die ihre Nase noch nie in die Yoga Sutren gesteckt haben.

Mit dieser Erfahrung zeigt sich auch ein anderes Zitat von Pattabhi Jois in neuem Licht: „Yoga is 99% practice and 1% theory”. Einmal mehr geht es nicht nur um die Asanapraxis, sondern um das „große Ganze“. Erlebnisse wie das mit dem kleinen Mädchen passieren mir im Großen und Kleinen immer wieder und seit ich begonnen habe, mich etwas mit den Schriften zu befassen, wird mir vieles davon klarer.

Patanjalis Yoga Sutra ist ein interessanter Wegweiser. Es zeigt Dir zwar nicht den genauen Weg voraus oder stellt gar ein Ziel in Aussicht, doch bei jedem Schritt bietet es Rückversicherung und Orientierung.

Ähnlich wie es damals meine erste Lehrerin getan hat, leite ich heute meine Mysore-Klassen meist mit einer kurzen Meditations- oder Chantingsequenz ein. Nur ein paar Minuten Sitzen vor der Praxis und nur ein kleines Häppchen Philosophie. Um ein bisschen Neugier zu wecken und zuzuschauen, wie sich Schritt für Schritt auch bei anderen die Veränderung von der Matte ins tägliche Leben schleicht.