»Never changed anything« – »Ich habe nie etwas geändert« war die Antwort von Pattabhi Jois, wenn wir Schüler ihn fragten, woher der Yoga stamme, den er unterrichtet. Pattabhi verwies stets auf seinen Lehrer T. Krishnamacharya. Von diesem habe er alles gelernt und gebe es so unverändert weiter.

Philosophie und Tradition

Mit einem Lachen erinnerte sich der alte Pattabhi, wie er mit 15 Jahren, also 1930, endlich ein formales Sanskit-Studium beginnen konnte. Am College des Maharadschas von Mysore zu studieren brachte ihn näher zu seinem Lehrer. Fast mittellos wanderte er also nach Mysore. Der alte Pattabhi Jois hielt gerne kopfschüttelnd zwei Rupies in die Höhe und erklärte: »With that little in my pocket!« – »Mit so wenig Geld in der Tasche«. Zu Fuß trat er also die beschwerliche, etwa 150 Kilometer weite Reise nach Mysore an. Doch das Studium brachte ihn nicht nur näher zu seinem Yogalehrer, er meisterte es auch mit großem Erfolg und unterrichtete später selbst am College als Professor für Sanskrit und Advaita-Vedanta.

Zunächst war der Yoga-Unterricht bei Krishnamacharya wenig strukturiert. Ab 1931 war Krishnamacharya zwar als Professor für Sanskrit und Philosophie dauerhaft am College des Maharadschas in Mysore tätig, doch reiste er viel, um den Yoga zu verbreiten. Pattabhi nutzte diese Gelegenheiten und begleitete seinen Lehrer. Bald stellte Pattabhi auf den berühmten Vorführungen Krishnamacharyas die Körperübungen des Yoga vor.

Erst im Jahre 1933 eröffnete Krischnamacharya mit Unterstützung des Maharadschas die Yoga-Shala im Seitenflügel des alten Maharaja-Palasts, dem Jaganmohan-Palast. Nun kamen auch immer mehr Studenten, um den Yoga von Krishnamacharya zu lernen. Der Maharadscha setzte sich dafür ein, Yoga bekannter zu machen, und finanzierte Yoga-Aufführungen in Schulen und Krankenhäusern.

Auch dem Pattabhi war der Maharaja wohlgesinnt, er gab ihm Geld für private Yoga-Demonstrationen im Palast und rief ihn oft schon um vier Uhr morgens zu sich, um bei Krishnamacharyas ältestem Schüler Yoga-Unterricht zu nehmen. Pattabhi unterrichtete zu dieser Zeit bereits mit dem Segen von Krishnamacharya seine Kommilitonen am Sanskrit-College. Im März 1937 erhielt er sogar eine geringe finanzielle Unterstützung des Maharadschas, um formal am College in Mysore Yoga zu unterrichten. Damals war Pattabhi selbst erst 21 Jahre alt. Pattabhi lacht: »Ten rupees a month« und schüttelt dabei seinen Kopf.

Im Jahr 1933 war es auch, als Pattabhi heiratete. Die damals erst 14-jährige Savitramma besuchte eine der vielen Yoga-Vorführungen, die Pattabhi Jois damals gab. Am nächsten Tag verkündete sie ihrem Vater, einem Sanskrit-Gelehrten, dass sie Pattabhi heiraten möchte. Durch ihre Beharrlichkeit stimmte dieser schließlich zu. Auch der Vater von Pattabhi Jois, ein Astrologe, stimmte schließlich trotz schlechter Horoskope zu. So heirateten die beiden vier Tage nach Vollmond im Juni, dem Geburtstag von Savitramma. Doch zunächst lebten beide weiter getrennt. Pattabhi in seinem kleinen Studentenzimmer am College, Savitramma bei ihren Eltern. Erst etwa vier Jahre später zogen die beiden zusammen und hatten insgesamt drei Kinder, die zwischen 1941 und 1944 geboren wurden: Die Tochter Saraswati und die beiden Söhne Manju und Ramesh. Savitramma wurde auch von den Yoga-Schülern bald liebevoll »Amma« – »Mutter«, genannt.

Ursprung im Himalaya

Auch Krishnamacharya verwies wohl mit einem »Never changed anything« – »Ich habe nie etwas verändert« auf seinen Lehrer Ramamohan Brâhmachâri. Als Krishnamacharya einen in authentischer, lebendiger Tradition weitergegebenen Haṭha-Yoga suchte, wurde er in seiner Heimat, Mysore in Südindien, nicht fündig. Etwa im 6./7. Jahrhundert n. Chr. entstand in Indien eine auf tantrischer Weltsicht basierende, körperbetonte Tradition des Yoga. Der Mythologie zufolge soll der erste Lehrmeister dieser sogenannten Nāṭh-Tradition der Gott Śiva, genannt Śiva Nāṭh, persönlich gewesen sein.

Ihm folgte der von Sagen umrankte Matsyendra Nāṭh. Die Tradition wurde schließlich durch Gorakṣa Nāṭh (11./12. Jh.) weitergetragen. Der weithin bekannte Autor der Haṭha-Yoga Pradīpikā, Svâtmârâma, folgte im 15./16. Jh. in dieser Tradition. Doch wenig später reißt die Tradition der Nâţh-Yogis in Südindien ab. Der körperbetonte Weg des Hatha-Yoga gerät dort in Vergessenheit. Als Sohn einer Gelehrten-Familie, der sich selbst viel und ernsthaft mit den alten Quelltexten auseinander setzte, wusste Krishnamacharya genau, wo er zu suchen hatte. Denn bereits Anfang des 20. Jahrhunderts war den Gelehrten bekannt, dass die Nāṭh-Tradition, beziehungsweise der Haṭha-Yoga, in den abgeschiedenen Bergen des Himalaya weitergetragen wurde.

So begab sich Krishnamacharya im Jahr 1915, im Alter von 27 Jahren, auf die Wanderschaft in den Himalaya. Man sagt, er sei dreieinhalb Monate durch die Berge geirrt, bevor er schließlich seinen Lehrer, Ramamohan Brāhmachāri, in einer Höhle unweit des heiligen Berges Kailash fand. Bei ihm studierte Krishnamacharya Philosophie, lernte alte Quelltexte und auch die körperliche Praxis des Yoga. Nach Desikachar soll Krishnamacharya etwa 3000 verschiedene Körperhaltungen von Ramamohan Brāhmachāri, der selbst etwa 7000 beherrschte, erlernt haben.

Nach siebeneinhalb Jahren Studium sandte Ramamohan Brāhmachāri seinen Schüler Krishnamacharya hinaus, um den Yoga wieder dorthin zurückzubringen, wo er ursprünglich herkam – nach Südindien beziehungsweise Indien überhaupt. So verließ Krishnamacharya im Jahr 1922 die Bergwelt des Himalaya und kehrte nach einiger Zeit des Studiums im Norden Indiens im Jahr 1924 nach Mysore zurück.

Die Yoga Korunta von Vāmana Ṛṣi

Doch, es mag uns nicht verwundern: Auch Ramamohan Brāhmachāri scheint mit den Worten »Never changed anything« – »Ich habe nie etwas verändert« auf einen Lehrer vor ihm verwiesen zu haben. Jedenfalls gibt er Krishnamacharya mit auf den Weg, alle Techniken und Übungen entstammten aus einem alten Buch, der »Yoga Korunta«. Die Yoga Korunta wird dem Weisen Vâmana Ṛşi zugeschrieben. Die Sage berichtet, wie Vāmana Ṛṣi auf einer feinstofflichen Ebene die Menschen beobachtete. Damals war der Yoga in Vergessenheit geraten. Die Menschen lebten in Unglück, Hast und Furcht. Vāmana Ṛṣi hatte Mitleid mit den Menschen und beschloss, auf die Erde zu kommen, um ihnen den Yoga wieder zu bringen.

So manifestierte er sich in einem Mutterleib, um als Mensch geboren zu werden. Doch die Geschichte zeigt uns, dass selbst Weise manchmal unbedeutende Kleinigkeiten übersehen. Denn erst im Mutterleib fiel ihm voll Schrecken ein, dass er selbst vom Yoga keine Ahnung hatte. Also betete er zu dem Gott Vishnu, er möge ihm helfen. Sein Gebet war so intensiv, dass Viṣnu Erbarmen hatte und zu ihm in den Mutterleib kam. Dort unterwies Viṣnu den Vāmana Ṛṣi im Yoga. Man sagt, er habe ihm hier all die Körperübungen und Bewegungen beigebracht, die dieser später in der Yoga Korunta festhielt und so unverändert über Ramamohan Brāhmachāri, Krishnamacharya und Pattabhi Jois zu uns als Ashtanga Yoga getragen wurden. Man sagt, es sei eine ungewöhnlich unruhige Schwangerschaft gewesen. Doch nach neun Monaten Lehrzeit im Mutterleib wollte sich Vishnu verabschieden. Vāmana Ṛṣi allerdings hatte noch lange nicht alles gelernt. Der Legende nach weigerte er sich, geboren zu werden, bis er seine Studien des Yoga beendet hatte. Die Überlieferung spricht auch von einer sehr langen Schwangerschaft, bis Vāmana Ṛṣi schließlich geboren wurde und das vollständige Übungssystem des Ashtanga Yoga in seiner Yoga Korunta niederschrieb.

»But he messed it up!« – »Aber er hat's versaut«.
B. N. S. Iyengar über Patthabi Jois

Wiederfinden und Verlust der Yoga Korunta

In der Bibliothek von Kalkutta soll Krishnamacharya wohl in den Jahren 1922 bis 1924 die Yoga Korunta gefunden haben. Der Erzählung nach enthielt sie genau das Übungssystem, das er von Ramamohan Brâhmachâri gelernt hatte. So diente die Yoga Korunta ihm bei seinem Yoga-Unterricht in Mysore als wichtigstes Referenz-Werk. 1940 verstarb dann jedoch der mächtige Gönner Krishnamacharyas, der Maharadscha von Mysore. Dessen Neffe, Jacha Maraja Wadiyar V., folgte ihm auf den Thron. Mit dem Ende der Kolonialzeit 1947 verlor schließlich auch dieser die Macht. Der neue Bürgermeister von Mysore, K. C. Reddy, ordnete an, dass die Yoga-Schule innerhalb von drei Monaten geschlossen werden müsse. So ging eine Ära zu Ende. 

Krishnamacharya siedelte bis 1956 schrittweise mit seiner Familie von Mysore nach Chennai um. Seinem ältesten und erfahrensten Schüler, Sri. K. Pattabhi Jois, betraute er mit der Aufgabe, die Tradition des Yoga in Mysore weiter zu tragen.

B. N. S. Iyengar, ein Mitschüler von Pattabhi Jois, erinnert sich an die feierliche Zeremonie im Tempel am Jaganmohan-Palast. Dort soll Krishnamacharya die Yoga Korunta an Pattabhi Jois übergeben haben. Doch dann bricht Iyengars Erzählung immer in einem ärgerlichen Ton ab: »But he messed it up!« – »Aber er hat's versaut«. Auch Pattabhi Jois berichtete, dieses Buch sei von Ameisen aufgefressen worden und deshalb nicht mehr erhalten.

Der westliche Blick auf die Tradition

Wir praktizieren also anscheinend ein Übungssystem, das seit vielen Tausenden von Jahren unverändert weitergegeben wurde. Es ist so festgehalten worden, in dem uralten Buch der Yoga Korunta. Und dann geht dieses Buch verloren. Da stellt sich die Frage, ob es vielleicht sein kann, dass die Yoga Korunta nie existierte und dass Ashtanga Yoga eine relativ neue Erfindung ist. Es ist wahr, dass vieles aus der Tradition des Ashtanga Yoga schwer bis unmöglich beweisbar ist. Aber brauchen wir immer Beweise?

Von einem Standpunkt aus gesehen ist das Leben wie der Blick durch ein Kaleidoskop. Du siehst wundervolle Farben und geometrische Muster. Wenn Du nur an der physikalischen Realität interessiert bist, wirst Du das Kaleidoskop zerlegen und zu dem Schluss kommen, dass die ganze Schönheit, die Du gesehen hast, nur ein paar Splitter alten, farbigen Glases waren. Du bist desillusioniert. Der Traum des Kaleidoskops ist zerstört. Doch kann gleichzeitig auch eine neue Faszination entstehen. Die Faszination, wie aus einfachen Bruchstücken ein wunderbares Ganzes entstehen kann. Daher blicken wir hier genauer auf die Tradition des Ashtanga Yoga.

Östliche Involution vs. westliche Evolution

Bei B. N. S. Iyengar erweiterte ich mein Studium des Ashtanga Yoga. Anders als der meist sehr wortkarge Pattabhi, sprach B. N. S. Iyengar gerne über Yoga-Philosophie. Oft war ich allerdings frustriert, da die von ihm genannten Jahreszahlen in keinster Weise mit denen der westlichen Indologie übereinstimmten. Den Schlüssel zum Verständnis bekam ich erst, als Iyengar mir erklärte: »I know nothing. Everything I teach comes from my teacher, Krishnamacharya« – »Ich weiß gar nichts. Alles, was ich unterrichte, stammt von meinem Lehrer Krishnamacharya«.

Entwicklungen in den Jahren 1975 bis 2009

Fakt ist, auch wenn Pattabhi Jois immer betonte, dass er nie etwas geändert habe, sich dennoch in seinem Unterricht einiges an Wandlung beobachten ließ: Positionen wurden hinzugefügt oder verschwanden, die Anzahl der Atemzüge änderte sich, die Weise, wie wir Positionen einnehmen und verlassen, unterlag Veränderungen, selbst die Aufteilung der Übungsserien änderte sich.

Kamen ab 1975 seine ersten westlichen Schüler, David Williams und Nancy Gilgoff, noch mit drei progressiv schwerer werdenden Übungsserien in Kontakt, unterrichtete er in seinen letzten Jahren, vor seinem Verscheiden im Jahr 2009, sechs progressiv schwerer werdende Übungsserien. Scheinbar teilte sich jede Serie in zwei Serien auf. Dabei wanderten die Positionen in eine neue Reihenfolge. Entstehende Lücken wurden mit neuen Positionen aufgefüllt und die Übergänge zwischen den Positionen formten sich länger, dynamischer und ausführlicher aus. Solche Änderungen, die sich im Laufe des Unterrichts von Pattabh Jois einstellten, verwirren oft uns als westliche Schüler – und Beispiele für größere und kleinere Änderungen gibt es Tausende. Es würde den Rahmen sprengen, sie alle hier aufzulisten. Diese Veränderungen scheinen im Widerspruch zu stehen mit einem »Never changed anything« – »Ich habe nie etwas verändert«.

Eben dies sagte Krishnamacharya auch in Bezug auf seinen Lehrer Ramamohan Brâhmachâri und dieser wieder über seinen Lehrer. Mit jeder Weitergabe von Lehrer zu Schüler scheint so die Tradition ein wenig von ihrer Weisheit zu verlieren. Je mehr Weisheit ein Werk enthält, desto weiter muss es seinen Ursprung in der Vergangenheit haben. Wenn mir Iyengar Jahreszahlen nannte, so bezogen sich diese weniger auf einen chronologischen Zeitstrahl, als auf die Hierarchie ihrer Bedeutung in der Tradition.

Das Yoga-Sutra von Patañjali beispielsweise datierte B. N. S. Iyengar auf »very very important – tenthousand years before christ!« – »sehr, sehr wichtig – zehntausend Jahre vor Christus«. Und die Yoga Korunta? »well important – five thousand years before christ!« – »ah, auch wichtig – fünftausend Jahre vor Christus«. Nach dieser in Indien weit verbreiteten Weltsicht hat sich alles in einer Involution aus einem Ursprung, aus Gott heraus entwickelt. Je weiter es in der Vergangenheit liegt, desto näher ist es der absoluten göttlichen Wahrheit. Diese Weltsicht steht offenbar im starken Gegensatz zu der im Westen üblichen Evolutionstheorie, nach der sich alles zu einem Besseren weiter entwickelt. Für mich ist es wichtig, beide Sichtweisen zu verstehen und als wertvoll zu erkennen.

Yoga vom Dach der Welt

In den frühen indischen Quelltexten der Nâţh-Yogis und des Hatha-Yoga finden wir meist eine überwiegend statische Körperpraxis mit relativ wenigen Übungen. Selbst bis zum 15./16. Jahrhundert scheint der Unterschied zum aktuell verbreiteten dynamischen Ashtanga Yoga unüberwindbar weit. Ein anderes Bild zeigen jedoch die Quellentexte des Zweiges der Tradition, der sich bald in den Himalaya aufzweigte. Schon vor dem 10. Jahrhundert wird dort eine Vielzahl von Körperübungen beschrieben, die auch dynamisch ausgeführt werden. Die Bewegungen sind oft mit dem Atem verbunden. Ein ausgefeiltes System aus Energielenkung und Konzentrationspunkten erweitert die körperliche Praxis. Solche Übungssysteme sind aus dem Himalaya unter den Namen Lu Jong oder Yantra-Yoga auch in den letzten Jahren erneut nach Europa gekommen. Schon auf den ersten Blick fallen Ähnlichkeiten zum modernen Ashtanga Yoga auf. Diese Verwandtschaft verwundert nicht, schließlich brachte Krishnamacharya die Tradition ja aus den Bergen Tibets beziehungsweise Nepals mit.

Wie die Turnerbewegung den Yoga inspirierte

Als Krishnamacharya 1924 aus den Bergen zurück in den Süden Indiens kam, war Indien von einer Stimmung des Aufbruchs beseelt. Einerseits schaute Indien bewundernd in den Westen, andererseits war es bereit, die westliche Herrschaft der Kolonialzeit abzuschütteln. Genau in dieser Zeit waren im Westen die Turnerbewegung und eine neue Körperkultur entstanden. In Europa wollte man, nach griechischem Vorbild, durch Körperübungen nicht nur den physischen Körper trainieren, sondern auch den Geist stark machen. Es entwickelten sich im Westen das Turnen, frühe Formen des Bodybuilding und Strongman sowie diverse Schulen der Fitness-Gymnastik.

Die Indien-Tourneen des legendären Vorreiters des Bodybuilding, Eugen Sandow (1867 – 1925), in den Jahren 1904 und 1911 zogen Tausende Inder an. Sandows Besuche hatten weitreichenden Einfluss auf die gesamte indische Gesellschaft. Sie schufen Interesse in breiten Bevölkerungsschichten, den physischen Körper zu trainieren.

In Europa trainierte man mit Gewichten, an Geräten oder nutzte den eigenen Körper für eine Vielzahl von Übungen. Besonders zu erwähnen ist die um 1900 vom Dänen Niels Bukh (1880 – 1950) begründete »primitive gymnastiks«, denn die Übungswahl und Ausführung ist dem heutigen Ashtanga Yoga erstaunlich ähnlich. Diese Gymnastikform wurde in der Zeit der englischen Kolonialmacht insbesondere durch die YMCA und die Armee nach Indien gebracht und war dort um 1920/1930 weit verbreitet. Dem Sonnengruß ähnliche Bewegungsfolgen wurden damals in ganz Indien zur Kräftigung praktiziert und es fanden sogar Wettbewerbe statt.

Was lag näher als der europäischen Fitness- und Turnerbewegung eine authentische indische Körperpraxis entgegen zu stellen? Die Voraussetzungen dafür waren gut, denn der Grundgedanke der europäischen Turnerbewegung und des indischen Hatha-Yoga scheinen verblüffend ähnlich. Das Ziel beider war es, durch eine physische Praxis den Geist zu transformieren.

Auch der Maharadscha von Mysore, Krishnaraja Wodeyar IV, war für die aus Europa kommende Turner- und Fitnessbewegung offen. So fanden bald im Jaganmohan-Palast unter Prof. M. V. Krishna Rao Training mit Gewichten und Turnübungen an Geräten statt. Insbesondere die dem Ashtanga Yoga so ähnliche Gymnastikform des Dänen Niels Bukh wurde auch hier praktiziert. Nur einige Räume daneben bezog wenig später Krishnamacharya seine Yoga-Schule.

Pattabhi Jois und Prof. K. V. Iyer

Es soll nicht lange gedauert haben, bis Iyer das hohe Maß an Körperbeherrschung von Pattabhi bemerkte. Er fragte diesen, woher er solch ein Maß an körperlicher Perfektion erlangte habe. Als Pattabhi vom Yoga-Unterricht bei Krishnamacharya berichtete, soll ihn Iyer mit folgenden Worten dorthin zurück geschickt haben: »Go back to Krishnamacharya, there is nothing more you can learn here.« – »Geh zurück zu Krishnamacharya, mehr kannst Du hier auch nicht lernen.«

»Go back to Krishnamacharya, there is nothing more you can learn here.«

Der bekannte Vorreiter der indischen Fitnessbewegung, Prof. K. V. Iyer (1900 – 1980), gehörte zu den engen Vertrauten und Beratern des Maharadschas. Iyer lebte zwar in Bangalore, doch war er beim Training im Jaganmohan-Palast ein regelmäßiger Gast. Pattabhi Jois berichtete, wie er selbst, wohl in den 30er Jahren, zu einem dieser Besuche die Yoga-Stunde bei Krishnamacharya schwänzte, um den berühmten Iyer zu erleben und bei ihm Unterricht zu nehmen.

»Never changed anything« – »Ich habe nie etwas geändert«

Auch viele heutige, europäische Yogalehrende beteuern, nie etwas geändert zu haben. Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, sie würden den Yoga so weitergeben, wie sie es in Indien gelernt haben. Doch auf einen zweiten Blick erkennen wir, dass sich auch in den letzten Jahren der Yoga weiter entwickelt hat. Die Tradition lebt, holt sich Inspirationen von allem Verfügbaren und befruchtet sich gegenseitig. Yoga ist und bleibt ein transglobales Phänomen.

Was jedoch gleich bleibt, ist der Grundgedanke beziehungsweise das Ziel. Wir können die ersten Ursprünge des Yoga in den Upanishaden um 800 v. Chr. sehen, denn hier wurde die Suche nach unserem wahren Wesenskern systematisch begonnen und so das Ziel der Yoga-Praxis definiert. Dieses Ziel haben die Yoga-Praktizierenden seitdem angestrebt – auch wenn erst im 6. Jh. n. Chr. mit dem Hatha-Yoga durch eine Arbeit mit dem physischen Körper wesentlich neue Werkzeuge hinzukamen. Auch diese Werkzeuge unterlagen und unterliegen einer ständigen Weiterentwicklung. Der Unterricht von Pattabhi Jois war ein Meilenstein in der Entwicklung. Er prägte wesentlich die Übungspraxis, wie wir sie heute kennen, und brachte sie in die westliche Welt.

Fast 3000 Jahre Erfahrung – eine Empfehlung wert

Vergleichen wir einmal Ashtanga Yoga mit einem Medikament. Wenn ich einem Patienten ein Medikament verschreibe, das 800 v. Chr. entwickelt wurde, so würden wohl die meisten lachend ablehnen. Ebenso, wenn ich eine neue Erfindung aus meiner Kitteltasche zaubere. Doch ein Medikament, das über viele Generationen hinweg konstant weiterentwickelt und verändert wurde, würde meine Patienten überzeugen. Solch ein Medikament wäre Ashtanga Yoga in unserem Vergleich. Eine gute Empfehlung wert.

Literatur

Singleton: Yoga Body: The Origins of Modern Posture Practice 
Desikachar, Kaustrub: The yoga of the yogi. The legacy of T. Krishnamacharya