Sabine: Prem, zunächst einmal ganz herzlichen Dank dafür, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Ich freue mich sehr über diese Gelegenheit: Bislang schlägt Bali die Entfernung zu allen bisherigen Interview-Partnern um Längen. Gleichzeitig bist Du vermutlich einer meiner Gesprächspartner mit der längsten Yoga-Erfahrung überhaupt. Das führt mich auch gleich zu meiner ersten Frage: Wie bist Du überhaupt zum Yoga gekommen? Nach allem was ich bisher gehört habe, war Dein Einstieg ja vergleichsweise spektakulär und wohl auch recht intensiv.
Prem: Ich bin über Freunde zum ersten Mal mit Yoga in Berührung gekommen – um ganz genau zu sein über Freundinnen. Sie haben zu mir gesagt: „Tony, Du wirst es lieben, das ist genau Dein Ding.“ Tony war mein damaliger Spitzname. Ich hatte eine ganze Reihe von Spitznamen und Tony Carlisi war einer davon. „Tony,“ sagten sie also, „es ist total großartig, Du musst einfach mitkommen.“
Ich war anfangs extrem zurückhaltend, weil ich mich an meine allerersten Eindrücke von Yoga erinnerte, die noch aus meiner Kindheit stammten. Und damit wollte ich definitiv nichts zu tun haben. Mir kam die Sache einfach nur seltsam und esoterisch vor. Der Grund dafür war, dass ich als Kind durch Zufall einmal im Fernsehen eine Sendung gesehen hatte, bei der eine schräge, weinerliche Musik im Hintergrund lief und eine seltsame alte Frau – mit anderen Worten also mindestens 40, wenn nicht noch älter – in einem dieser enganliegenden Gymnastikanzüge auftrat. Das waren noch die Zeiten, in denen es nur drei Programme gab. Ich wollte eigentlich Zeichentrickfilme sehen und schaltete sofort wieder um, aber das Bild hatte sich trotzdem in meinem Gedächtnis festgesetzt und ich wollte mit Yoga absolut nichts zu tun haben.
Meine Freundinnen blieben allerdings hartnäckig und schleppten mich letztendlich zu meiner ersten Unterrichtsstunde. In dieser ersten Stunde durfte ich noch kein bisschen aktiv mitpraktizieren. Das machen wir übrigens heute noch genauso, d.h. wir lassen alle Neueinsteiger bei ihrer ersten Stunde ausschließlich zuschauen und nicht aktiv teilnehmen. Außerdem ist die Voraussetzung, dass sie bereit sind, mindestens vier Wochen mit uns zu üben, sprich wir bieten keine “Drop In” Option an, bei der die Teilnehmer kommen und gehen können, wie sie möchten.
Aber zurück zu meiner ersten Stunde. Ich bin wie gesagt dort hingegangen und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass der Unterricht in einer alten Kirche mit einer enormen Deckenhöhe und Buntglasfenstern stattfand. Die ganze restliche Einrichtung war entfernt worden und es gab nur einen großen freien Raum, der komplett mit Teppich ausgelegt war. Die „Ashtanga Yoga Church“. So hieß das Gebäude übrigens wirklich, „The Church”. Dort bin ich also gelandet und ich konnte anfangs kaum glauben, was ich sah. Die Praktizierenden waren wirklich enorm fortgeschritten. Ich saß in meiner Ecke, schaute zu und war wie gebannt vom Anblick dieser großartigen Körper in Bewegung. Als etwa drei Viertel der Praxis um war, kam der Lehrer zu mir herüber und fragte mich, ob ich künftig mitmachen wollte. Ich sagte nur: „Ja, das ist genau das, was ich tun möchte.“ Es hieß dann, dass ich nur aufgenommen würde, wenn ich mich gleich für drei Monate verpflichtete. Ich war anfangs etwas skeptisch, aber der Lehrer ließ was den Zeitraum betraf nicht mit sich reden. Letztendlich schrieb ich mich dann auch wirklich für die drei Monate ein.
Am nächsten Morgen kam ich zu der vereinbarten Zeit wieder in die Kirche. Dort lernte ich in meiner ersten Stunde Surya Namaskara A und B. Das war alles! Ich war 21, top fit und sagte: „Hey, zeigt mir mehr Übungen, ich hab‘ das drauf!“ Aber ich bekam an diesem Tag auch nicht den allerkleinsten Schritt mehr. Sprich ich kam am nächsten Morgen wieder. Und am übernächsten. Und am über-übernächsten…
Das ging letztendlich drei Monate lang so. Wir waren eine Gruppe von etwa 25 bis 30 Leuten, die zu einer richtigen Familie zusammenwuchs. Wir verbrachten ständig Zeit zusammen, machten am Wochenende gemeinsame Ausflüge und veranstalteten jeden Samstag eine Art Kirtan. Ich kann Dir sagen, als ich anfing, wusste ich nichts, buchstäblich gar nichts und plötzlich veränderte sich alles so rasend schnell: Von jemandem, der Tage zuvor noch auf der Straße herumgehangen und Hamburger, Hot Dogs und anderes Fastfood in sich hineingestopft hatte, wurde ich von jetzt auf gleich zum Vegetarier und Yogi. Wenn ich etwas tue, dann mache ich in der Regel keine halben Sachen…
Sabine: So weit ich weiß, hat die erste Begegnung mit Pattabhi Jois ebenfalls in den USA stattgefunden. Wie war es, das erste Mal mit ihm zu praktizieren?
Prem: An einem Tag hieß es plötzlich, der Guruji käme. Ich fragte: „Ok, was genau ist ein guruji?“ Ich hatte absolut keine Ahnung, was das sein sollte und bekam gesagt: „Dieser Typ ist DIE zentrale Figur im Ashtanga Yoga.“ Patthabi kam für 6 Monate in die USA und ich meldete mich sofort an. An seinem Ankunftstag standen plötzlich auch noch um die 20 anderen Leute aus Hawaii vor unserer Tür. Abgefahrene Typen im Hippie-Style – einschließlich David Williams, Nancy Gilgoff und Danny Paradise, also die ganz großen Namen. Der Raum war jetzt wirklich voll, die Plätze waren bis zum letzten belegt. Dann betrat Guruji den Raum. Er war damals so alt wie ich heute bin, also 61. Meine erste Reaktion war: „Wer IST dieser Mensch?“ Er kam mir vor wie eine Gestalt aus einem Märchen mit einem weißen Hemd und einer Brille, insgesamt eine absolut unscheinbare Erscheinung. Er ging durch den Raum und gab uns nur einige ganz wenige Anweisungen und Tipps - auf’s absolute Minimum beschränkt und in gebrochenem Englisch. Dennoch hinterließ er bei uns während der gesamten sechs Monate rein durch seine Präsenz einen bleibenden Eindruck. Diese Präsenz war absolut beeindruckend und er hatte außerdem eine enorme Autorität. Für mich war er wie eine Großvater-Figur, ein Coach und ein Mentor, alles in einem. Ich selbst habe meinen Vater bereits sehr früh verloren, von daher war es für mich ein wirklich denkwürdiges Ereignis, auf eine solche Person zu treffen. Er hat in meiner Evolution – oder vielmehr der Revolution, die in mir stattfand – eine enorme Rolle gespielt und ich bin ihm bis zu dem Tag an dem er gestorben ist eng verbunden geblieben. Dennoch ist es so, dass gerade diese ersten sechs Monate mit ihm eine unglaubliche Veränderung in mir ausgelöst und mich auf meinen lebenslangen Ashtanga Yoga Weg gebracht haben.
Sabine: Nach der ersten Begegnung mit Guruji und der sechsmonatigen Praxis in den USA warst Du anschließend noch zahlreiche Male in Indien. Wie war es, dort zu praktizieren? Gab es Unterschiede zu dem, was Du in den USA erlebt hattest?
Prem: Im Jahr darauf bin ich mit einer Gruppe von Leuten nach Indien gefahren. Genauer gesagt waren wir die erste Gruppe von Westlern, die vor Pattabhis Tür aufgetaucht ist. Wir waren zu sechst. Die anderen sind alle für drei Monate geblieben, aber ich war ganze sechs Monate dort. Es war wieder eine sehr intensive Zeit für mich: zum ersten Mal in Indien und zum ersten Mal zusammen mit Pattabhi in seinem eigenen Haus. Er nahm uns in Empfang, als ob wir seine Kinder wären. Seine Frau ganz genauso. Sie war so unglaublich schön, graziös und warmherzig. Ama bekochte uns und versorgte uns jeden Tag mit Kaffee. Wir verbrachten jeden Tag Zeit mit Guruji und er hielt in seinem gebrochenen Englisch Vorträge für uns. Wie bereits erwähnt sprach er wirklich nur sehr wenig Englisch, aber er teilte mit uns was er konnte über das Yoga Sutra und andere Sanskrit-Texte. Guruji verfügte über ein enormes Wissen, an dem er uns jeden Tag teilhaben ließ. Das war auch der Grund, warum wir drei Monate lang geblieben sind. Als alle anderen wieder nach Hause fuhren, bin ich noch in Indien geblieben und dort herumgereist.
Sabine: Meines Wissens nach hat diese Reise auf sehr unschöne Weise geendet, eine Erfahrung, die auch in Deinem Buch “The Only Way Out Is In” beschrieben ist.
Prem: Ja, das stimmt. An irgendeinem Punkt meiner Reise wurde ich krank, richtig, richtig krank. Ich hatte mir die Amöbenruhr eingefangen und kann Dir nur sagen, ich stand so kurz davor zu sterben. Ich bin ohnehin sehr schlank und verlor während meiner Krankheit noch einmal sehr stark an Gewicht. Amöbenruhr ist eine extrem heftige Krankheit, ich konnte überhaupt nichts mehr bei mir behalten. Rückblickend war es eine total verrückte Situation. Zu dem Zeitpunkt, als das Ganze geschah, war ich gerade in Benares, der Stadt des Todes. Es handelt sich dabei um eine Shiva Stadt, einen Ort, an den die Leute gehen um zu sterben. Die Körper werden dann verbrannt und die Asche in den Ganges gestreut. Ich wohnte damals auf einem Hausboot und auf jeder Seite waren Scheiterhaufen, auf denen die Toten verbrannt wurden. Oh Gott, das war eine so unglaublich abscheuliche Erfahrung und ich war wie gesagt selbst buchstäblich an der Schwelle des Todes. Dennoch gelang es mir letztendlich, noch so viele Kräfte zu mobilisieren, um zurück zu Guruji und seiner Frau Ama zu kommen. Sie haben sich um mich gekümmert und mich so gut sie konnten gepflegt. Ich habe auch versucht, wieder zu praktizieren, aber an einem bestimmten Punkt sagte ich zu ihm: „Guruji, ich muss zurück nach Hause.“ Ich bin anschließend zurück in die USA geflogen, wo ich letztendlich die Ursache meine Krankheit herausfand und erfuhr, dass es sich um Amöbenruhr handelte. Ich brauchte noch fast ein Jahr, um mich wieder vollständig davon zu erholen.
Sabine: Wie bist Du während der darauffolgenden Jahre mit Pattabhi in Kontakt geblieben?
Prem: Ich hielt bis zu dem Tag, an dem er gestorben ist, engen Kontakt zu Pattabhi . Mir war es sehr wichtig, jedes Jahr nach Indien zu fahren und ihn überall dort zu treffen, wohin er in den USA kam. Allerdings bekam ich dann selbst Kinder und konnte diesen Rhythmus nicht mehr in dieser Form aufrechterhalten. Aber selbst mit Kindern versuchte ich noch, ihn immer dann zu sehen, wenn er in die USA kam, da ich selbst nicht mehr so oft nach Indien reisen konnte. Ich blieb ihm wirklich bis zum Ende sehr, sehr stark verbunden. An dem Tag, als er gestorben ist, war ich gerade in Deutschland, genauer gesagt in Hamburg. Plötzlich hatte ich das intuitive Gefühl, dass ihm etwas zugestoßen war. Ich sagte zu meiner Frau Radha: „Ich glaube, Guruji ist gestorben.“ Daraufhin bin ich online gegangen, aber es gab noch keine Nachrichten. Im Laufe des Tages trafen dann allerdings mehr und mehr E-Mails ein, dass er verstorben sei – unsere enge Verbindung hatte also bis zum Ende bestand.
Sabine: Eines der berühmtesten Zitate von Pattabhi ist vermutlich der Satz “never changed anything”, das mit ziemlicher Sicherheit so gut wie jeder Ashtangi bereits irgendwann einmal gehört hat. Was ist an dieser Aussage dran? Stimmt es, dass es nie irgendwelche Veränderungen gab, oder konntest Du durchaus eine Weiterentwicklung bzw. gewisse Veränderungen in dem beobachten, was Pattabhi unterrichtet hat?
Prem: Die größte Veränderung, die ich bei ihm und seiner grundsätzlichen Herangehensweise sah, war die Tatsache, dass die Teilnehmerzahlen völlig aus dem Ruder liefen. Die Zahl der Leute, die begannen, sich für ihn und seine Methode zu interessieren, ist buchstäblich explodiert. In diesem Zusammenhang ist es allerdings interessant zu sehen, dass er den sehr persönlichen und direkten Kontakt zur mir und einigen anderen der langjährigen Lehrer und Schüler aufrechterhielt: „The old students“, also die alten Schüler, nannte er uns immer. Dabei kam es zum Beispiel auch vor, dass er bei einer Konferenz plötzlich sagte, Ah, Ragama, very old student.” – Ragama war sein Name für mich. Dennoch war es grundsätzlich wie ich gesagt habe so, dass die Zahlen komplett durch die Decke gegangen sind. Wo auch immer er hinkam, bildeten sich wahre Menschenmassen, die sich quasi nicht mehr bewältigen ließen.
Eine weitere einschneidende Veränderung, die ich in den frühen 1980ern beobachtete, war, dass er plötzlich mit etwas daherkam, das er als „led class“, also geführte Stunde bezeichnete. Als ich das zum ersten Mal hörte dachte ich mir nur, „Was zum Teufel ist eine Led Class?“. Letztendlich war es so, dass die Teilnehmerzahlen so stark gestiegen waren, dass er sich dafür entschied, ein neues Format einzuführen und eben diese geführten Stunden zu unterrichten. Das war der einzige Grund dafür. Er konnte schlichtweg nicht derart viele Leute in einer Mysore Stunde unterbringen. Gleichzeitig wollte er allen Schülern das richtige Vinyasa und den korrekten Count beibringen. Diesen Aspekt hat jedoch so gut wie keiner gesehen und stattdessen fingen die Leute an, die ganze Sache wörtlich zu nehmen. Genau das ist das Problem: Alle nahmen das Ganze wörtlich und haben die Led Class förmlich in den Himmel gehoben. Der einzige und auch wirklich ALLEReinzige Zweck der Led Class bestand jedoch darin zu demonstrieren, wie Vinyasa funktioniert, nichts Anderes!
Aus meiner Sicht kann eine Led Class für einen Lehrer EIN interessantes Hilfsmittel sein, aber eben nur eines von vielen. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass viele Lehrer die Led Class als den zentralen Weg nutzen, um Ashtanga Yoga zu unterrichten. Ich finde Led Classes total bescheuert, es gibt im Ashtanga so gut wie nichts, das alberner ist als die Led Class. Und nein, ich mag Led Classes nicht, ganz und gar nicht! Es ist einfach nicht der richtige Ansatz – ganz im Gegenteil, im Ashtanga geht es um den Mysore-Stil, die Selbstpraxis und den Fokus auf sich selbst, das ist das Einzige, was zählt!
Sabine: In Anbetracht Deiner Haltung zur Led Class kann ich mir, glaube ich, schon denken, wie Deine Reaktion auf meine nächste Frage aussieht… Aktuell lässt sich eine gewisse Tendenz beobachten, Kurse zu „beschleunigen“ und auf diese Weise die Gesamtzeit zu reduzieren, beispielsweise indem man in einer Position für eine niedrigere Anzahl von Atemzügen verbleibt. Was hältst Du von dieser Entwicklung?
Prem: Einmal mehr - als ich anfing, hielten wir jede Position für acht bis zehn Atemzüge. In der Led Class fünf Atemzüge. Zum Schluss waren wir so weit, dass Pattabhi eine komplette Led Class, also von Samasthitih bis zu Shavasana, in 55 Minuten gehalten hat. 55 MINUTEN! Wir haben uns damals nur noch gegenseitig angesehen und gefragt: „Was zum Henker geht hier vor?“. Es war einfach nur noch lächerlich, wie im Zirkus. Plötzlich fingen alle an, immer schneller und schneller und noch schneller zu praktizieren. Wobei auch genau das unterrichtet wurde. Nach 55 Minuten sagte Pattabhi dann „next“, alle gingen hinaus und machten Platz für die nächste Gruppe, und die nächste, und die nächste. Er hatte so unglaublich viele Schüler, dass das die einzige Möglichkeit war, den Massen halbwegs gerecht zu werden. Einmal mehr, das war der einzige Grund. Und trotzdem ist es so, dass alle den neuen Ansatz wörtlich nahmen und das immer noch tun. Das gilt auch für Sharat – er nimmt die ganze Sache einfach WORTWÖRTLICH! Inzwischen ist das Ganze fast schon wie ein gottverdammter Code, also quasi die Ashtanga Religion. Das ist einfach nur noch lächerlich.
Sabine: Ein weiterer Punkt, der mich sehr interessiert, sind Pattabhis Adjustments, also die Hilfestellungen. Gerade in der Anfangszeit scheinen diese zum Teil recht physisch und intensiv ausgefallen zu sein. Ist dieser Eindruck korrekt?
Prem: Auch hier aus der Perspektive von jemandem, der das Ganze über fast 40 Jahre mitverfolgen durfte. Ich habe ihn viele Male beobachtet und ich war mit ihm in Räumen, in denen hunderte von Leuten waren. Er war ein Meister darin, Menschen zu berühren und ihnen Hilfestellungen zu geben. Tatsächlich war es so, dass wir seine „Versuchskaninchen“ waren.
Ich erzähle Dir jetzt etwas, das ich seit Pattabhis Tod bereits einigen anderen Leuten erzählt habe. Das Ganze kommt direkt von Manju Jois, ich denke mir das also nicht einfach nur aus. Manju hat auf Hawaii einen Workshop gehalten. Das war kurz nachdem Pattabhi verstorben war und viele der „old students” waren vor Ort.
An einem Abend hat David Williams Manju fast schon ein Stück weit ins Verhör über die Yoga Korunta genommen. Er sagte: „Manju, ich würde gerne mit Dir einmal über die Yoga Korunta reden…”. Manju schnitt ihm das Wort ab und meinte „Weißt Du, David, Guruji hat sich die Sequenzen ausgedacht, er ist der Erfinder.“ Wir schauten uns alle gegenseitig an und dachten, „Was hat er da gerade gesagt?“. Ein Teil von uns begann nervös zu kichern, ich dagegen begann lauthals zu lachen, ein volles Lachen aus der Tiefe meines Herzens. „Das ist so unglaublich komisch!”, sagte ich. Das war es auch und es passte perfekt zu einer Erinnerung, die mir in dem Moment plötzlich durch den Kopf schoss. Ich sah Pattabhi wieder vor mir, wie er einzelne Positionen innerhalb der Serie hin und her schob und die Serien an sich veränderte, wie zum Beispiel als er die sieben Kopfstände aus der „Intermediary“ Serie herausnahm. Er tat das permanent und jedes Mal wenn wir ihn fragten: „Guruji, warum machen wir das jetzt?”, antwortete er nur ,„ah, same method” – die gleiche Methode.
Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Jahr 1981 oder 1982. Er kam damals nach Maui und führte eine neue Position ein. Seine Anweisung war: „Nach Parsvakonasana macht ihr jetzt diese Position hier, Parivrtta Parsvakonasana.” Wir fingen also an, die neue Position zu üben – und mein Gott, die ist wirklich nicht ohne. Wir übten sie trotzdem und blieben ein ganzes Jahr dabei. Im darauffolgenden Jahr kam er dann wieder und meinte: „Warum macht ihr diese verrückte Position?“. Wir antworteten: „Aber Guruji, Du hast uns doch gesagt, wir sollen sie üben.“ Daraufhin er: „Ok, behaltet sie.” Genau das war seine Art – er hat immer Scherze gemacht und ein bisschen mit den Leuten gespielt. Er hat uns außerdem die ganze Zeit auf die Probe gestellt. Deshalb musste ich auch so sehr lachen als Manju uns erzählte, dass Guruji die Sequenzen einfach erfunden hat. Ich habe anschließend auch noch direkt zu ihm gesagt: „Manju, das bedeutet, dass wir quasi „Versuchskaninchen“ waren.“ Woraufhin er nur nickte und meinte: „Ja, letztendlich ja. Er hat euch ganzen Westler, die bei uns aufgetaucht sind, für seine Forschung genutzt.“
Lass mich hier noch etwas hinzufügen. Erinnerst Du Dich, wie sein Institut hieß? Richtig: The Ashtanga Yoga Research Institute, das Ashtanga Yoga FORSCHUNGS-Institut. Und genau das war es, was er jeden Tag tat: er nutzte uns für seine Forschung!
Sabine: Du warst, wie wir gehört haben, einer der ersten Schüler aus dem Westen, die nach Mysore gekommen sind. Besteht aus Deiner Sicht ein Unterschied zwischen Dir bzw. den anderen Schülern der ersten Stunde und den Leuten, die später nach Mysore gefahren sind?
Prem: Oh Gott, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ganz, ganz anders. Als ich zum letzten Mal bei Guruji war, war ich regelrecht angewidert. Ich war angewidert von der Energie, der ganzen Cliquen-Bildung und dieser absoluten Fixierung auf die Frage „Und welche Serie übst Du?“. Es gab so viel Neid und Missgunst und die Leute haben förmlich um die Plätze gekämpft. Du glaubst es fast nicht, aber nach der ersten Led Class haben sich Leute wirklich um einen verdammten Mattenplatz gestritten. Das war nur noch verrückt.
Als ich damals zu ihm gefahren bin und in der Gruppe Zeit mit ihm verbracht habe, waren wir noch authentisch, wir waren Schüler, die wirklich etwas lernen wollten. Ich möchte jetzt nicht als Purist rüberkommen, aber wir haben wirklich noch Opfer gebracht, um bei ihm sein zu können. Ich habe mir beispielsweise förmlich den A… abgearbeitet und jeden Cent, den ich hatte, dafür genutzt, um nach Indien fahren zu können. Ich hätte damals so gut wie alles getan, um wieder nach Indien zurückzukehren und dort sechs Monate zu bleiben. Das habe ich jedes Jahr gemacht. Jetzt ist es so, dass die Leute dort aufschlagen und nur irgendein lächerliches Blatt Papier wollen, das eigentlich völlig bedeutungslos ist. Ich wollte damals nicht einmal ein Zertifikat. In der Anfangszeit lief es auch so, dass er keine Zettel verteilte, sondern nur sagte: „Yes, you teach!” - „Du unterrichtest ab jetzt!“ Das war noch der traditionelle Weg: Wenn der Lehrer sieht, dass Du bereit bist, kommt er auf Dich zu und sagt: „So, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass Du Dein Wissen weiter gibst und unterrichtest.“
Sabine: Das ist bereits die Überleitung zu meiner nächsten Frage. Als Du Deine ersten Kurse unterrichtet hast, hattest Du eigentlich noch kein grünes Licht von Guruji bekommen. Im Gegensatz dazu bist Du heute ein sehr erfahrener (und auch zertifizierter) Lehrer. Was hat sich an Deinem Ansatz über die Jahre geändert?
Prem: Nun, eigentlich ist es so, dass die Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen ist, sondern nach wie vor weitergeht. Wenn Du jung und dumm bist und alles hast, nur keine Erfahrung, dann denkst Du schnell, dass Du schon alles weißt. So war das auch bei mir. Als ich so um die 20 war, dachte ich, ich wüsste eh schon alles. Pattabhi sagte zu mir, dass ich nicht unterrichten sollte, was ich zu dem Zeitpunkt allerdings schon tat. Ich antwortete daher „Aber Guruji, ich unterrichte doch schon.”, worauf er nur erwiderte, „Nein, Du unterrichtest nicht.“ Mich hat das damals sehr verletzt und auch ein Stück weit wütend gemacht. Meine erste Reaktion war daher auch: „F*** off, ich werde trotzdem weiter unterrichten, damit verdiene ich schließlich gerade mein Geld.“ Rückblickend ist es allerdings in der Tat so, dass ich damals im Unterricht noch nichts verloren hatte. Nach einiger Zeit kam Patthabhi dann allerdings zu mir und sagte: „Du unterrichtest jetzt!“ Damit gab er mir seinen offiziellen Segen. Das war sehr wichtig für mich. Letztendlich habe ich dann sogar noch ein Zertifikat erhalten. In der Tat war Sharat derjenige, der mich dazu ermutigt hat, mich zertifizieren zu lassen. Ich denke, das muss um das Jahr 2000 herum gewesen sein. Es gab eine Tour mit einer Station in London in England, Guruji kam gemeinsam mit Sharat. Sharat kam auf mich zu und meinte: „Anthony, Du solltest Dich zertifizieren lassen.“ Ich sagte daraufhin nur „Aber warum? Das ist nur ein Stück Papier.” Doch Sharat beharrte auf seinem Punkt: „Schon,“ meinte er, „aber es gibt nicht viele Leute, die zertifiziert sind und Du bist einer der alten Schüler. Ich denke, Du solltest es machen.” Ich unterhielt mich daraufhin noch mit ein paar anderen Freunden und schlussendlich habe ich mich tatsächlich dafür entschieden. Um das Jahr 2003 herum hat mir Guruji also mein Zertifikat überreicht und 1994 darauf geschrieben. Ich schaute ihn an und sagte: „Guruji, warum schreibst Du 1994 drauf? Wir sind doch längst in den 2000ern.” Er nickte nur und meinte: „Ah, einer der ganz alten Schüler.“ Ich nahm das Zertifikat daraufhin schweigend entgegen und nach diesen langen Jahren ist es wirklich etwas, das ich in Ehren halte und das mir sehr, sehr viel bedeutet, weitaus mehr als nur ein Stück Papier also.
Sabine: Lass uns zum Abschluss noch einmal zurück in die Gegenwart kommen oder vielmehr einen Blick in die Zukunft werfen. Du hast erwähnt, dass Du Pläne hast, ab nächstem Jahr regelmäßig nach Europa zu kommen. Worauf dürfen wir uns freuen?
Prem: Ja, das stimmt. Wir haben vor, 2017 nach Europa zu kommen und im Juni dort zu unterrichten. Momentan laufen die Planungen noch, aber die genauen Daten und Orte werden in Kürze auf unserer Homepage veröffentlicht.
Sabine: In diesem Fall sind wir definitiv gespannt darauf, mehr zu erfahren – und hoffen, dass Deutschland an irgendeiner Stelle mit auf der Liste steht! Für den Moment aber erst einmal ein ganz herzliches Dankeschön für Deine Zeit und dass Du so viele Eindrücke, Erinnerungen und Erkenntnisse mit uns geteilt hast!