Sabine: Eberhard, Du bist Vertreter der Vedanta-Lehre. Für diejenigen, die mit indischer Philosophie noch nicht so viel Erfahrung haben: Kannst Du kurz erklären, worum genau es sich bei dem Vedanta handelt?
Eberhard: Zuerst einmal möchte ich sagen, dass ich mich nicht als Vertreter einer bestimmten Richtung sehe. Die Weisheitstexte des Vedanta haben mich durch die sehr praktische und lebensnahe Vermittlung der Lehrer, mit denen ich in Indien eine gemeinsame Zeit verbringen durfte, zutiefst inspiriert. Was mich allerdings nicht veranlasst hat, mich einer bestimmten Richtung zugehörig zu fühlen, da die Essenz dieses Wissens universell und auch in Weisheitslehren anderer Kulturen zu finden ist. Es geht in diesen Texten vor allem um die Auseinandersetzung mit menschlichem Leid, also etwa die Frage, wie Leid entsteht. Was die Texte dabei auszeichnet ist, dass sie nicht auf die persönliche Geschichte eines Menschen eingehen, da sie davon ausgehen, dass das wirkliche Problem nicht dort liegt, sondern die wahre Ursache an anderer Stelle zu finden ist.
Damit widerspricht diese Lehre komplett unserer üblichen Sichtweise, in der wir die Gründe für unser Leid meist fast ausschließlich in uns selbst oder in der Welt sehen. Diese (vielen von uns) sehr vertraute Sichtweise wird in den Weisheitsschriften der indischen Vedanta-Lehre als eine egozentrische Sichtweise bezeichnet. Die Vedanta-Texte stellen dieser rein persönlichen Perspektive nun eine andere Perspektive gegenüber – wohlgemerkt eine Perspektive. Das bedeutet, die Texte nehmen für sich nicht in Anspruch, eine Wahrheit zu verkünden und ich finde dort auch keine Anweisungen oder Regeln, wie ich mein Leben zu gestalten hätte. Was die Texte anbieten, ist lediglich diese andere Sichtweise, also die Möglichkeit, die Dinge einmal anders zu betrachten. Zum Ausdruck gebracht wird das bereits durch das Sanskritwort „Darshana“, was Anschauung bedeutet und eine häufige Zusatzbezeichnung der Texte des Vedanta wie etwa den Upanischaden oder der Bhagavad Gita ist. Es geht letztendlich somit um einen ganz bewussten Perspektivwechsel – der ja auch sonst im täglichen Leben sehr hilfreich sein kann, etwa dann, wenn man auf der Suche nach einer Lösung für ein Problem nicht mehr weiter kommt.
Sabine: Du erwähnst Texte wie die Upanischaden und die Bhagavad Gita. Die exakte Datierung ist zwar nach wie vor strittig, aber es besteht kein Zweifel daran, dass es sich dabei um sehr, sehr alte Texte handelt. Je nach Quelle wird die Entstehungszeit der Bhagavad Gita beispielsweise auf 500 v. Chr. bis 300 n. Chr. geschätzt, sie dürfte also eine gute zweitausendjährige Geschichte haben. Wie aktuell oder relevant sind diese Texte noch für unser heutiges Leben? Bringt es mir etwas für meinen Alltag im 21. Jahrhundert, wenn ich mich mit ihnen auseinandersetze?
Eberhard: Diese Texte haben kein „Verfallsdatum“, da sie das universelle und überkulturelle Problem menschlichen Leids behandeln. Sie sprechen den Menschen immer nur als einzelnes Individuum an, ungeachtet des Geschlechtes, der Herkunft, Religion oder Kultur. Das bedeutet, dass die Weisheitsschriften nicht den denkenden Menschen ansprechen, sondern den bewussten Menschen, der sich seines Denkens bewusst werden kann. Alle Identifikationen, die wir in uns tragen, entspringen lediglich dem Denken, was im Patanjali Yoga Sutra auch als „Vrtti“, also eine geistige Bewegung, bezeichnet wird. Der Begriff umfasst dabei alle Gedanken, die sich auf mich oder die Welt beziehen. All das Leid, das ich aus der persönlichen Sichtweise erfahre, ist immer verbunden mit einer bestimmten Identifikation, die letztendlich jedoch nur dem Denken entspringt. Im Zustand der Unbewusstheit und Verwicklung ist mir dies allerdings nicht klar. Daher führen mich die Weisheitsschriften – wie etwa das Yoga Sutra – von der Außenwelt, wo ich alle Probleme sehe, zur Innenwelt, um auf diese Weise meine Unterscheidungskraft zu stärken. Dies ermöglicht es mir schließlich zu sehen, was wirklich ein äußeres und was ein inneres Problem ist. Diese Art von Selbsterforschung kann zunehmend zu der einerseits beunruhigenden und andererseits befreienden Erkenntnis führen, dass das eigentliche Problem nur ich selbst bin. Dieses Problem, das in den indischen Weisheitstexten als eigentliche und einzige Ursache für menschliches Leid betrachtet wird, nennt man auf Sanskrit „Avidya“, zu Deutsch Unwissenheit.
Sabine: Für mich klingt es ehrlich gesagt zumindest nach meiner spontanen ersten Reaktion eher beunruhigend, dass ich selbst das Problem sein soll. Was hat das für Konsequenzen? Kann ich an dieser Situation aktiv etwas ändern und etwas gegen meine Unwissenheit tun oder muss ich letztendlich damit leben, das Problem zu sein?
Eberhard: Einerseits klingt es beunruhigend, aber andererseits fühlt es sich vor allem auch unangenehm an, dass ich das Problem bin, da ich dann ja niemanden für mein Leid verantwortlich machen kann. Es wirkt auch deshalb unangenehm, weil wohl behütete Vorstellungen und Glaubenssätze über mich und die Welt in Frage gestellt werden – aber andererseits macht es Sinn, denn sonst würde ich keine Bücher über Yoga und Spiritualität lesen. Mein Lehrer sagte mir dazu: „Wenn es keinen Sinn macht, wirf es weg, aber werfe es nicht weg, nur weil es Dir nicht gefällt“. Diese Kombination von Sinn und Ablehnung kann geistig aufwühlen und auch mal eine schlaflose Nacht bereiten. Das ist aber auch nur ein Zeichen dafür ist, dass das Wissen in mir arbeitet. Die Bewusstheit, dass das wirkliche Problem in mir liegt, eröffnet vollkommen neue Optionen: Die Möglichkeiten, Lösungen für äußere Probleme herbei zu führen, sind sehr beschränkt. Ich kann andere Menschen nicht ändern oder eine gerechte und friedliche Welt erschaffen. Aber wenn ich mir z. B. meiner eigenen inneren Verwirrung oder einer negativen Emotion wie Ärger bewusst werde, dann kann ich mit Hilfe der Werkzeuge des Yoga darauf einwirken. Das heißt noch nicht, dass dies einfach wäre, aber ich habe nach innen gerichtet potentiell einen 100 %igen Zugang und damit stehen mir alle Möglichkeiten offen. Genau das ist es, was in diesem Kontext als Freiheit bezeichnet wird.
Man kann gegen die Unwissenheit an sich nichts tun, denn nur über die absichtsvollen Handlungen, die meinem eigenen subjektiven Wertesystem entspringen, habe ich mich in diese Unwissenheit mehr und mehr hinein manövriert. Ich kann mir aber meiner Unwissenheit bewusst werden, anstatt auf das „Gewusste“ stolz zu sein. Das ist der erste Schritt zu innerer Weisheit.
Sabine: Gibt es ein Beispiel, wie ich einen Aspekt aus den Weisheitstexten für mein eigenes Leben einsetzen kann? Oder das zeigt, wie diese Philosophie auch in meinem alltäglichen Leben für mich relevant wird?
Eberhard: In den Weisheitstexten wird innere Schnelligkeit als eine dämonische Kraft (Asura) betrachtet, Langsamkeit dagegen als eine göttliche Kraft (Deva). In jeder negativen Emotion bin ich innerlich schnell und fühle mich eng. Ich kann mich zum Beispiel nicht langsam ärgern. Genau die gegenteilige Erfahrung, also das Erleben von Langsamkeit und Weite, mache ich dagegen nach einer guten Yogapraxis.
Wenn ich mich über jemanden ärgere, springt mein Intellekt nach draußen wie ein Kettenhund, der anschlägt, und beißt sich regelrecht am Grund meines Ärgers fest. Dabei geht meine komplette Aufmerksamkeit mit voller Wucht nach außen und ich bin mir der inneren Geschwindigkeit und Enge gar nicht bewusst. Wenn es mir dagegen gelingt, im Alltag die bewusste Verlangsamung der geistigen Bewegungen herbei zu führen – so wie ich es unter den Idealbedingungen der Yogapraxis erlernt – nehme ich irgendwann auch meine eigene Verwirrung und Unklarheit wahr, anstatt mich nur auf die äußeren Gründe des Ärgers zu konzentrieren. Dadurch eröffnet sich mir die Möglichkeit zu sehen, wie weit das Problem wirklich mit mir zu tun hat und inwieweit ich es durch die Wucht der negativen Emotion nach außen projiziere. Wenn ich meine eigene Verwirrung erkenne, fällt mir möglicherweise auch auf, dass ich überreagiert habe.
Dies ist nur ein Beispiel, wie ich dieses Wissen im Alltag praktisch umsetzen kann. Mein Lehrer sagte immer, eine Spiritualität, die nicht praktisch im Leben umsetzbar ist, ist wertlos. Er sagte zudem stets, dass ich ihm bei seiner Präsentation niemals etwas glauben muss. Er gab mir lediglich Hinweise und Werkzeuge an die Hand, mit denen ich experimentieren kann, um zu sehen, ob es wirklich funktioniert, in bestimmten Situationen ruhiger und klarer zu bleiben. Der Satz, der mir von ihm noch am meisten in Erinnerung ist, hieß: „Du hast eine Freiheit, Dich nicht aufzuregen.“ Ich musste 30 Jahre alt werden, um diesen Satz zu hören – nachdem ich bis dahin immer ermuntert worden war, mich aufzuregen.
Sabine: Du hast jetzt schon mehrfach erwähnt, dass Dein Lehrer etwas zu Dir gesagt hat – offensichtlich lief die Unterweisung also in der Regel über Gespräche ab. Ist der Dialog bei der Auseinandersetzung mit den Weisheitstexten von besonderer Bedeutung? Sind diese Texte vielleicht sogar schon von ihrer Gattung her darauf ausgelegt, dass sie nicht nur still gelesen, sondern in irgendeiner Form gemeinsam rezipiert werden?
Eberhard: Man bezeichnet diese Art von Texten in Indien mit dem Sanskritwort „Pramana“, was „Mittel“ bedeutet. Sie sind ein Mittel, das zu beseitigen, was wirklich zwischen mir und meinem Glück steht. Wenn mich üblicherweise jemand fragt, was dies wäre, hätte ich wohl eine recht lange Antwort parat, in der ich mich selbst und die Welt als Gründe meines Leids schildern würde. Mit anderen Worten, ich setze in diesem Fall meinen Intellekt ein, um mein Leid zu rechtfertigen. Die Weisheitstexte behaupten dagegen, dass nur Unwissenheit zwischen mir und meinem Glück steht, und sehen sich als ein Mittel, diese Unwissenheit zu beseitigen. In diesem Fall setze ich meinen Intellekt nicht zur Rechtfertigung meines Leidens ein, sondern zur Befreiung davon. Das wird nicht als „Intelligenz“, sondern als „Weisheit“ bezeichnet. Diese Art von Wissen ist nicht dazu gedacht, im üblichen Sinne studiert oder nur rezitiert zu werden. Sie funktioniert vielmehr so, wie wenn man in einen Spiegel hineinschaut und sich dort seiner Unwissenheit bewusst werden kann. Genau das ist auch der Anfang dieser Weisheit.
Sabine: Auf den ersten Blick erscheinen viele der Texte unglaublich dicht und teilweise auch erst einmal sehr schwer zugänglich. Gerade wenn ich noch nichts über diese Art der Philosophie weiß, stellen sich einem Neueinsteiger dann vielleicht Fragen wie: „Kann ich mich wirklich ohne jegliches Vorwissen in ein Seminar trauen?“, „Blamiere ich mich nicht ganz fürchterlich, wenn ich eine „dumme“ Frage stelle?“ oder „Werde ich überhaupt irgendetwas verstehen?“ Was würdest Du auf diese Fragen antworten? Kann ich auch als Einsteiger gleich an einer Veranstaltung teilnehmen oder sollte ich zunächst lieber die Finger davonlassen und für mich selbst lernen?
Eberhard: Überhaupt nicht. Auch was die Verständnisfrage betrifft, sehe ich keinerlei Probleme, ganz im Gegenteil. Denn wenn man genauer hinschaut, verbirgt sich hinter dem in den Text vermittelten Wissen eine erschreckende Einfachheit. Erschreckend daher, weil diese Einfachheit etwas ist, das unser Intellekt am wenigsten schätzen kann. Mein ganzes Leben erscheint im Spiegel dieses Wissens plötzlich in einem sehr einfachen Licht. Es wird dort zum Beispiel die Behauptung aufgestellt, dass ich alle absichtsvollen Handlungen im Leben nur tue, um mich von einem unangenehmen Gefühl zu einem angenehmeren Gefühl zu bringen und dass es dabei keine Ausnahme gäbe. Diese radikale Aussage sollte man nicht einfach unhinterfragt glauben, sondern bei sich selbst erforschen, ob das stimmt. In dieser Art der Selbsterforschung mit Hilfe der geistigen Ruhe und Klarheit, die ich aus der Praxis des Yoga erfahre, eröffnet sich die Möglichkeit, dass mir etwas auffällt – ein Prozess, den man auch als Erkenntnis bezeichnet.
Oft führen genau diese Fragen, von denen Menschen häufig glauben, sie seien dumm oder banal, im Satsang, also einem gemeinsamen Treffen von Menschen mit gleichem Interesse an Selbsterforschung, zu den essentiellen Weisheiten dieser Texte. Wenn in der Präsentation der Texte der Bezug zum alltäglichen Leben mit all seinem Kummer und seinen Sorgen aber auch den Freuden und dem Glück aufrechterhalten wird, bleiben sie lebendig und ermöglichen einen sehr einfachen Zugang zu diesem Wissen. Es wird in einem Satsang nicht im üblichen Sinne etwas gelehrt. Es ist also keine Situation, in der der Lehrer etwas weiß, und die Schüler wissen es nicht. Es wird vielmehr ein Wissen erweckt, das bereits in jedem Menschen vorhanden ist, aber auf Grund von Verwicklungen, die auch als Identifikationen, Konditionierungen, Verhaftungen und Ähnliches bezeichnet werden, glücklicherweise nur scheinbar verschwunden ist. Der Blick in den Spiegel dieser Weisheit kann dieses Wissen wieder erwecken, was ich mir selbst und jedem Menschen wünsche.
Sabine: Ich glaube, wer bereits einmal bei Dir in einem Seminar gewesen ist, kennt diesen sehr praxisbezogenen Ansatz und wird Deine letzten Ausführungen zu 100% unterschreiben. Allen anderen ist ein Besuch natürlich wärmstens empfohlen… Herzlichen Dank für Deine Zeit und diesen vielschichtigen und spannenden ersten Einblick in die Vedanta-Philosophie!