Die Tattvas laden zu einer Reise der Selbstentdeckung ein, indem sie aufzeigen, wie individuelles Bewusstsein und universelles Bewusstsein miteinander verflochten sind. So eröffnet sich eine Tür, über die eigenen Begrenzungen hinauszugehen.

Philosophie und Tradition

Entwicklung der Tattvas

Tattva kann mit "Wirklichkeit" oder "Prinzip" übersetzt werden und bezieht sich auf die Elemente oder Bausteine der Existenz. Im nondualen Shaiva Tantrismus wird die gesamte Realität als Manifestation des Göttlichen angesehen, und diese Tattvas sind die Stufen oder Aspekte dieser göttlichen Manifestation.

Das Konzept der Tattvas entwickelte sich langsam bereits in den Upanishads und der frühen  Sāṁkhya Philosophie. Verschiedene Konzepte mischen sich in den unterschiedlichen Strömungen dieser Zeit - etwa 1.000 v.Chr. bis zum Jahr 0.

In der reiferen Sāṁkhya Philosophie, wie wir sie in der Sāṅkhya-Kārikā sehen, kristallisieren sich immer mehr 25 Tattvas heraus. Die Einteilung, Namen und Bedeutung wird für die weitere indische Philosophie so prägend, dass sie weithin übernommen wird.

So baut auch der Tantrismus auf genau diesen 25 Tattvas auf, übernimmt deren Namen, Reihenfolge und weitgehend ihre Grundbedeutung. Jedoch erweitert er sie zum Subtilen bzw. Göttlichen hin um weitere 11 Elemente. Dadurch erhalten die 25 Tattvas der Sāṁkhya Philosophie eine grobstofflichere Einordnung als in der Sāṁkhya Philosophie alleine.

36 Tattvas als charakteristisches Kernelement des Kashmir Shaivismus

Der Kashmir Shaivismus ist eine Schule des Tantra, die sich auf die nonduale Polarität von Śiva und Śakti und deren Aspekte konzentriert. Diese philosophische Ausrichtung ist bekannt für die detaillierte Ausarbeitung der 36 Tattvas. Die Tattvas bilden hier ein Kern-Konzept. 

Doch das Konzept der Tattvas findet sich auch in anderen tantrischen Richtungen:

  • Dem Shaktismus, der die Göttin Shakti verehrt, gibt es ebenfalls ein System von Tattvas, das jedoch in der Anzahl und Interpretation variieren kann. 
  • Auch im Vaishnavismus, einer weiteren großen Richtung des Hinduismus, die Vishnu und seine Avatare verehrt, finden sich ähnliche kosmologische Systeme, die aber meist nicht so detailliert ausgearbeitet sind wie im Shaiva Tantra.

Das grundlegende Konzept hinter den Tattvas – dass die gesamte Realität aus verschiedenen Prinzipien oder Aspekten besteht, die von subtil bis grob reichen – ist ein gemeinsames Merkmal vieler indischer philosophischer Systeme. Die spezifische Ausformulierung und Anzahl der Tattvas kann jedoch von Tradition zu Tradition unterschiedlich sein.

Zusätzlich zu den hinduistischen Traditionen finden sich ähnliche Konzepte auch im buddhistischen Tantra, wenngleich mit unterschiedlichen Interpretationen und Praktiken. Insgesamt ist das Tattva-Konzept ein Beispiel dafür, wie indische spirituelle Traditionen eine komplexe Sicht auf die Natur der Realität und des Bewusstseins entwickelt haben, die sowohl philosophische als auch praktische spirituelle Dimensionen umfasst.

Tattvas als Schöpfung und Befreiung

Im nondualen Shaiva Tantrismus wird die gesamte Realität als Manifestation des Göttlichen angesehen. Die Tattvas sind dabei die Stufen oder Aspekte dieser göttlichen Manifestation. Im Folgenden werden die zwei grundlegenden Prozesse, durch die diese Tattvas sich entfalten und wieder zusammenführen, näher betrachtet: die Reihenfolge der Schöpfung (Sṛṣṭi-Krama) und die Reihenfolge der Rückkehr (Saṁhāra-Krama).

Reihenfolge der Schöpfung (Sṛṣṭi-Krama):

   - Von unmanifest zu manifest: Im Shaiva Tantrismus wird die gesamte Realität als eine Manifestation des Göttlichen betrachtet. Die Tattvas, die von dem unmanifesten Śiva bis hin zur grobstofflichen Erde reichen, stellen die verschiedenen Stufen oder Aspekte dieser göttlichen Manifestation dar.

   - Entsprechung: Diese Abfolge symbolisiert den Prozess der Schöpfung innerhalb der philosophischen Tradition, wobei das Göttliche sich in zunehmend dichtere materielle Formen zusammenzieht.

Reihenfolge der Rückkehr (Saṁhāra-Krama):

   - Von manifest zu subtil: Auf unserer spirituellen Reise, die auf Befreiung oder die Rückkehr zum Ursprung abzielt, durchlaufen wir die Tattvas in umgekehrter Reihenfolge. Beginnend mit der grobstofflichen Erde bewegen wir uns zu immer feiner werdenden Formen.

   - Ziel: Diese Abfolge illustriert den Weg der Rückkehr zum Ursprung, wobei die Verdichtungen des Materiellen zunehmend aufgelöst werden und das Subtile wieder in den Vordergrund tritt.

Paramārtha - Das geheime Tattva Nr. #0

Nur in den esoterischen nondualen tantrischen Quellen wird ein Tattva Nr. #0, ein geheimes Tattva verehrt. Es gilt als der Schlüssel zum Verständnis der nondualen Tantra-Philosophie und wird mit vielen Namen bezeichnet wie z.B. Paramārtha oder Śrī Paramaśiva.

Es zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

1. Positionierung: Tattva #0 steht nicht an der Spitze der Hierarchie. In der Rangordnung der Tattvas nimmt das absolut transzendente Śiva den höchsten Platz ein.

2. Das Höchste Prinzip:  Obwohl Śiva als das "höchste" Tattva gilt, ist Tattva #0 das höchste Prinzip, die ultimative Wahrheit (paramārtha). Es ist nicht transzendent, denn Transzendenz würde bedeuten, darüber hinauszugehen und es somit auszuschließen.

3. Einschluss und Transzendenz: Im nondualen Verständnis muss das Höchste sowohl alle Dinge transzendieren als auch einschließen. Dies stellt ein zentrales Paradoxon dar.

4. Ausdruck und Substanz: Tattva #0 drückt sich als die eigentliche Substanz aller Dinge aus und ist gleichzeitig mehr als nur die Summe aller wahrnehmbaren Wirklichkeiten.

5. Undefinierbare Essenz: Dieses absolute Prinzip kann nicht in die Tattva-Liste aufgenommen werden, da es als undefinierbare Essenz sowohl manifeste als auch unmanifeste Dinge durchdringt.

6. Unverständlichkeit für den Verstand: Für den menschlichen Verstand bleibt dieses Prinzip absolut unverständlich, da es sich der rationalen Erfassung entzieht.

Śuddha Tattvas (Reine Tattvas) 

Die fünf Śuddha Tattvas bilden das "Reine Universum" ab. Dieses ist keine physische Lokalität, sondern die absolute Wirklichkeit, die das gesamte manifeste Universum durchdringt.

Die oberen fünf Tattvas sind dabei keine getrennten Entitäten, sondern verschiedene Aspekte des einheitlichen göttlichen Bewusstseins, die zusammen eine differenzierte Beschreibung des Göttlichen bieten. Wir können sie als eine spezifische Phase oder Ebene im Bewusstsein des Göttlichen sehen. Wobei Unterschiede hauptsächlich in der Perspektive und Betonung liegen.

So führt Dich die meditative Realisierung jedes einzelnen dieser fünf Tattvas zu vollständiger Befreiung und spirituellem Erwachen.

Die fünf Śuddha Tattvas starten mit der nondualen Polarität aus Śiva und Śakti:

(1) Śiva

In der Pratyabhijñā-Schule wird Śiva als das Licht der Manifestation (prakāśa) oder das Licht des Bewusstseins (cit-prakāśa) verstanden. Er symbolisiert die erleuchtende Kraft des Bewusstseins, die sich in allen Dingen manifestiert und diese erhellt. 

Im Vijñāna Bhairava Tantra wird Śiva als das fundamentale Sein beschrieben, das allen Dingen Zusammenhalt verleiht und in dem alle Dinge ruhen. Seine Existenz geht über alle definierbaren Eigenschaften hinaus, und er wird als die vereinigende Kraft aller unterschiedlichen Śaktis, die Potenziale und Energien, angesehen. 

Śiva hält als kuleśvara, der Herr der Familie, und als Mittelachse des sich drehenden Rades der Kräfte, diese Potenziale zusammen und bietet Raum für ihre Entfaltung.

(2) Śakti: 

Śakti wird in der Pratyabhijñā-Philosophie als das glückselige, selbstreflektierende Bewusstsein (vimarśa) betrachtet. Sie ist die Kraft, die es dem Bewusstsein ermöglicht, auf sich selbst zurückzufallen, sich seiner selbst bewusst zu werden und sich selbst zu genießen. Diese dynamische Energie wird oft als cid-ānanda (Glückseligkeit des Bewusstseins) zusammengefasst und spielt eine zentrale Rolle in der Manifestation und dem Erleben des Göttlichen. 

Da Śiva ohne die Kräfte des Bewusstseins, der Glückseligkeit und des Willens keine greifbare Präsenz hätte, wird Śakti oft als das höchste Prinzip in der nondualen Śaiva Tradition verehrt. Sie ist die Manifestation der göttlichen Energie, die alle Aspekte des Universums durchdringt und belebt.

Dreiergruppe als zweiter Teil der Śuddha Tattvas

Die Śuddha Tattvas setzen sich dann in einer Dreiergruppe fort, die die Grundlage für das Ich, die Außenwelt und die Selbstwahrnehmung bilden:

(1) / (3) Sadāśiva Tattva: Differenzierung und Willenskraft

Das Prinzip, das den allerersten Schritt Richtung Differenzierung gibt, während Unterscheidung und Identität erst mit Māyā entsteht. Hierbei handelt es sich um den Keim des Universums, der sich aus sich selbst heraus durch die göttliche Willenskraft (icchāśakti) oder durch den ursprünglichen Impuls zum Selbstausdruck entwickelt.  

(2) / (4) Īśvara Tattva: Persönliche Gottheit und Wissenskraft

Īśvara Tattva, definiert als "Persönliche Gottheit und Wissenskraft", bezieht sich auf das Konzept einer personalisierten Gottheit in der spirituellen Philosophie. Der Begriff Īśvara ist überkonfessionell. Als solcher findet er auch im Yoga-Sūtra von Patañjali Erwähnung.

Viele monotheistische Religionen erkennen diese Ebene als die höchste Wirklichkeit an, in der Gott als eine personifizierte Entität existiert. So trägt diese Gottheit spezifische, charakteristische Eigenschaften. Sie wird in verschiedenen Kulturen unter verschiedenen Namen wie Krishna, Allah, Avalokiteśvara, JHWH oder Jehova verehrt.

Eine zentrale Facette des Īśvara Tattva ist seine Verbindung zu jñānaśakti, der Kraft des Wissens. Īśvara wird zugeschrieben, das subtile Muster zu kennen, das bei der Schöpfung des Universums verwendet wird. Diese Wissenskraft verleiht Īśvara eine tiefe Einsicht in die Natur des Universums und seine Funktionsweise.

(3) / (5) Śuddhavidyā Tattva: Reine Mantra-Weisheit und Handlungskraft

Śuddhavidyā Tattva steht für die Ebene der reinen Weisheit. Dieses Tattva ist tief mit der Essenz und Funktion der Mantras verwoben. Schon das Wort "Vidyā" selbst bezeichnet nicht nur Weisheit im traditionellen Sinne, sondern auch Mantras.

Die Weisheit bezieht sich auf die verschiedenen Bewusstseinsphasen von Śaiva-Śakti, die sich wiederum in siebzig Millionen Mantras manifestieren. Siebzig Millionen ist dabei die mythologische Zahl aller Mantras, die je existiert haben oder existieren werden. 

In der tantrischen Tradition werden Mantras als bewusste Entitäten angesehen, ähnlich den Engeln in den westlichen Religionen. Die transformative Kraft der Mantras ist zentral; sie bewirken Veränderungen und sind somit Ausdruck der kriyā-śakti, der Handlungskraft.  Diese Handlungskraft zeigt, wie Mantras durch ihre transformative Wirkung handeln. 

Wer auf der Ebene von Śuddhavidyā Tattva Befreiung erreicht, verwandelt sich in ein Mantra-Wesen. Die persönliche spirituelle Transformation und die energetische Wirkung der Mantras sind in dieser Sicht eng miteinander verwoben.

Śuddhāśuddha Tattvas (Gemischte Tattvas)

Die gemischten Tattvas (Śuddhāśuddha Tattvas) beinhalten die nächste Gruppe von Tattvas, die teilweise rein und teilweise unrein sind. Sie repräsentieren die Entstehung des individuellen Ichs und der Begrenzungen. Sie umfassen:

(1) / (6) Māyā Tattva: Die Quelle der Welt

Mit dem Wort Māyā wird in den meisten anderen spirituellen Traditionen "Illusion" oder "Verblendung" bezeichnet. Im Tantra jedoch erhält dieser Begriff eine andere und positivere Bedeutung. Obwohl Māyā uns dazu verleitet, Dualität zu sehen, wo eigentlich Einheit herrscht, ist diese Perspektive wichtig für unsere Selbstentdeckung. Das Göttliche hat diesen Prozess mit dem Schaffen des Universums selbst gewählt.

Māyā ist der Ausdruck von Śaiva-Śakti, um Kreativität und Vielfalt hervorzubringen. So wird Māyā zur "Quelle der Welt" (jagad-yoni). Māyā wird zu einer fundamentalen Kraft, durch die das Göttliche sich in die Manifestation projiziert. Diese Kraft ermöglicht Unterscheidung und Differenzierung, wodurch das Eine als Viele erscheint.

Das Paradoxe an Māyā ist, dass sie gleichzeitig trennt und verbindet. Sie erschafft Unterschiede und stellt Herausforderungen dar. Doch genau diese Kraft nutzt das Göttliche, um sich selbst zu offenbaren. Māyā, in ihrer göttlichen Form, drückt die gesamte sichtbare Realität aus. Sie gibt uns die Chance, durch weltliche Herausforderungen tiefere Einsichten in die Einheit trotz Vielfalt zu erlangen.

(7) - (11) Die fünf Schleier (Kañcukas)

Māyā gliedert sich weiter in fünf Schleier (Kañcukas), welche die göttlichen Eigenschaften einschränken bzw. verhüllen. Die Schleier bestehen aus:

  1. / 7) Kalā: Die begrenzte Macht der Handlung oder eingeschränkte Macht.
  2. / 8) Vidyā: begrenztes Wissen
  3. / 9) Rāga: Begehren oder Verlangen. Der Wunsch nach der Erfüllung des Bedürfnisses, die wahre Natur zu erkennen.
  4. / 10) Kāla: Zeit und die durch die Zeit bedingte Vergänglichkeit. Sowie das Bewusstsein für Vergangenheit und Zukunft.
  5. / 11) Niyati: Schicksal und die Bindung an das Ursache-Wirkungs-Prinzip von Karma.

Aśuddha Tattvas (Unreine Tattvas)

Die unreinen Tattvas (Aśuddha Tattvas). Sie sind 1:1 aus der Sāṁkhya Philosophie übernommen. Es zeugt durchaus von einer gewissen Selbstüberzeugung, dass der Tantrismus diese Prinzipien als grobstofflich einstuft, im Vergleich zu den Prinzipien, die für ihn charakteristisch sind.

Im Tattva System der Sāṁkhya Philosophie kommt Puruṣa an erster Stelle. Sogesehen ist Puruṣa synonym mit Śiva in den Tattvas des Tantrismus. Doch innerhalb des Tantrismus wird Puruṣa lediglich auf den subtilsten Platz der Elemente, die unsere physische Erfahrung ausmachen, verwiesen. Oft wird Puruṣa in den Tattvas des Tantrismus auch auf dem untersten Platz der Śuddhāśuddha Tattvas dargestellt. 

Die Aśuddha Tattvas umfassen zunächst eine Zweiheit aus Selbst und Materie:

(1) / (12) Puruṣa Tattva: Das Prinzip des individuellen Selbst.

In der Sāṁkhya Philosophie bezeichnet Puruṣa die unfassbare Essenz unseres Individuums. Ist allerdings völlig von der materiellen Form unseres Individuums getrennt, jedoch ewig, nicht berührt von der Zeit.

In der Tantra Philosophie hingegen ist Puruṣa die bewusste Essenz unseres Individuums. Puruṣa ist hier nun vergänglich. Er ist nur eine Phase der Kontraktion, die durch Ausdehnung des Bewusstseins wieder vergeht.

(2) / (13) Prakṛti Tattva: Das Prinzip der Natur oder der Materie. 

Der Begriff Prakṛti Tattva bezieht sich auf das Prinzip der Natur oder Materie, welches als grundlegend für die Manifestation aller physischen Formen und Phänomene angesehen wird. In der Sāṅkhya-Philosophie wird Prakṛti als die ursprüngliche und unveränderliche Ursache aller materiellen Existenz betrachtet. Diese wird durch die ständige Interaktion und das Gleichgewicht der drei Guṇas geformt: Sattva (das Reine), Rajas (das Bewegte) und Tamas (das Feste). Diese drei Qualitäten sind dynamisch und beeinflussen ständig die Veränderungen in der Natur.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Prakṛti in der Sāṅkhya-Philosophie als der fundamentale Stoff für alles Manifestierte und Verkörperte dient – sie ist quasi der „Baustoff“, aus dem die Welt entwickelt wird. In dieser Hinsicht kann Prakṛti als die erste Form der Materialität angesehen werden.

Im Tantra jedoch wird eine etwas andere Perspektive eingenommen: Hier ist die primäre Quelle der manifestierten Welt nicht Prakṛti, sondern Māyā. Māyā ist die Kraft, die Dualität und Pluralität erzeugt. Durch Māyā entsteht die Vielfalt der Erscheinungsformen, und sie setzt den Prozess der Kontraktion des Bewusstseins in Gang. In dieser Sichtweise ist Māyā die treibende Kraft hinter der Schaffung von Unterschieden und Formen in der manifestierten Welt, während Prakṛti die materielle Substanz bereitstellt, aus der diese Formen entstehen.

Diese Unterscheidung ist zentral, um die unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Prakṛti in der Sāṅkhya-Philosophie und im Tantra zu verstehen. Während in Sāṅkhya Prakṛti die Grundlage aller materiellen Phänomene bildet, fügt das tantrische Denken eine weitere Dimension hinzu, indem es Māyā als die initiale Ursache der manifestierten Welt und der damit verbundenen Dualität betrachtet.

(14), (15), (16) Drei Elemente des Citta

Dann folgen drei Elemente, die unseren Geist (Citta) ausmachen:

  1. / 14) Der Erkenner oder Intellekt (Buddhi)
  2. / 15) Das Ego (Ahaṁkāra)
  3. / 16) Denken ((Manas)

Buddhi erkennt, Ahaṁkāra bezieht das Erkannte auf sich selbst und Manas verarbeitet die Sinneseindrücke.

In der Sāṅkhya-Kārikā kommt das Wort „Citta“ nicht vor (im Unterschied zum Yoga Sūtra). Und da diese drei Tattvas zum Bereich der Prakr̥ti gehören, sind sie im System der dualen Sāṅkhya-Philosophie ohne Bewusstsein. Im nondualen Śaiva Tantra ist das anders. Citta ist - wie alles - ein Ausdruck des universellen Bewusstseins in kontrahierter Form und somit bewusst.  

Es folgen nun vier Fünfergruppen: Sinnesorgane (Jñānendriyas), Handlungsorgane (Karmendriyas), subtile Elemente (Tanmātras) und grobe Elemente (Mahābhūtas). Wobei jeweils Sinnesorgane, Handlungsorgane, subtile Elemente und grobe Elemente einander ihrer Reihenfolge nach zugeordnet sind. Im einzelnen:

(17) - (21) Die fünf Sinnesorgane (Jñānendriyas):

  1. / 17) Ohren mit dem Hören
  2. / 18) Haut mit dem Fühlen
  3. / 19) Augen mit dem Sehen
  4. / 20) Zunge mit dem Schmecken
  5. / 21) Nase mit dem Riechen

(22) - (26) Die fünf Handlungsorgane (Karmendriyas):

  1. / 22) Mund mit dem Sprechen
  2. / 23) Hände mit dem Berühren
  3. / 24) Beine mit dem Gehen
  4. / 25) Geschlechtsorgane mit der Fortpflanzung
  5. / 26) Ausscheidung

Hier finden wir eine Besonderheit und Unterschied zu den 25 Tattvas der Sāṁkhya Philosophie. Dort (in der Sāṁkhya-Kārikā) sind die beiden Handlungsorgane (4) und (5) getauscht. Die Ausscheidung nimmt also die 4. Stelle ein, während die Fortpflanzung an 5. Stelle steht. 

Sāṁkhya-Kārikā 26::
buddhīndriyāṇi śrotratvakcakṣūrasananāsikākhyāni /
vākpāṇipādapāyūpasthān karmendriyāṇy āhuḥ // ISk_26 //

Die Sinnesorgane werden Ohr, Haut, Auge, Geschmack und Nase genannt.

Sprache, Hände, Füße, After und Zeugungsglied nennt man die Handlungsorgane.

In der Sāṅkhya-Philosophie entspricht die Ausscheidung dem grobstofflichen Element des Wassers, während die Fortpflanzung dem grobstofflichen Element der Erde entspricht. In der Reihenfolge, die in vielen zeitgenössischen Veröffentlichungen zu den Tattvas des Tantrismus zu finden ist, entspricht hingegen die Fortpflanzung dem Wasser, während die Ausscheidung der Erde entspricht. Es ist zu beachten, dass die Reihenfolgen in den Quelltexten des nondualen Śaiva-Tantras generell variieren.

(27) - (31) Die fünf subtilen Elemente (Tanmātras):

  1. / 27) Klang
  2. / 28) Berührung
  3. / 29) Form
  4. / 30) Geschmack
  5. / 31) Geruch

(32) - (36) Die fünf groben Elemente (Mahābhūtas):

  1. / 32) Raum
  2. / 33) Luft
  3. / 34) Feuer
  4. / 35) Wasser
  5. / 36) Erde

Einordnung der Tattvas

Diese 36 Tattvas bieten einen umfassenden Rahmen, um die Komplexität der Realität und die Beziehung zwischen dem Göttlichen und der materiellen Welt zu verstehen. Sie bieten auch eine Basis für spirituelle Praktiken, die darauf abzielen, die Begrenzungen zu überwinden und das ursprüngliche, reine Bewusstsein zu erkennen.

Bilder: OpenAI

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