Das Dattātreyayogaśāstra (12. Jh) verbindet alte vedische Traditionen mit neuen Haṭha-Yoga-Praktiken und ordnet sie verschiedenen LehrerInnen wie Dattātreya, Śiva und Kapila zu.

Philosophie und Tradition

Die Lehren im Dattātreyayogaśāstra

Obwohl Dattātreya die Lehren verkündet, werden die verschiedenen Yoga-Richtungen anderen LehrerInnen zugeschrieben:

Layayoga wird von Śiva in der Gestalt Bhairavas gelehrt. Die Zuordnung des Layayoga zu Śiva weist Parallelen zu anderen Śaiva-Texten auf und ist weniger überraschend. 

Haṭhayoga kommt in zwei Varianten vor:

  1. Einmal dem Yājñavalkya zugeschrieben.
  2. Die zweite Variante ist einem Kapila zugeschrieben. 

Die Verbindung von Kapila mit den Haṭha-Praktiken zur Kontrolle der Lebensenergien ist dagegen ungewöhnlich, da solche Techniken meist Śiva oder Lehrern der Tradition zugeschrieben werden.

Ein Teil der Tradition ist mit der vedischen Lehre verbunden, weshalb das klassische Aṣṭāṅga-System Yājñavalkya zugeschrieben wird. Der andere Teil der Tradition folgt jedoch nicht immer dieser Linie. Neue und unkonventionelle Haṭhayoga-Praktiken werden in eine traditionelle Lehre integriert. Dattātreya und Kapila spiegeln diese Spannung wieder, wie im Folgenden deutlich wird.

Dattātreya – Der göttliche Lehrer

Der weise Dattātreya, dem das Werk zugeschrieben wird, wird zum ersten Mal im Mahābhārata (ca. 4. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n. Chr.) erwähnt, wo er in einer Reihe von Weisen (ṛṣis) genannt wird. 

In der Jābāla-Upaniṣad (ca. 3. Jh. n. Chr.) wird er als einer der spirituellen Meister (paramahaṁsa) beschrieben, die nackt umhergehen und sich ungewöhnlich benehmen. 

Später wird er oft sowohl als ṛṣi als auch als eine Inkarnation des Gottes Viṣṇu angesehen. Diese Verbindung zu Viṣṇu wird in mehreren alten Schriften erwähnt, wo er häufig als Sohn eines bekannten Weisen und dessen tugendhafter Frau (Atri und Anasūyā) bezeichnet wird. 

Der Text, der Dattātreya am ausführlichsten beschreibt ist die Mārkaṇḍeya-Purāṇa (ca. 4. bis 6. Jh. n. Chr.). Dieser stellt ihn sowohl als Weisen und Yogin als auch als Inkarnation von Viṣṇu dar. In mehreren Kapiteln dieses Textes lehrt Dattātreya Yoga.

Yājñavalkya – Der vedische Rishi

Yājñavalkya hat einen alten Stammbaum als vedischer Ṛṣi und wird im Dattātreyayogaśāstra mit der Praxis des achtgliedrigen Yogas (Aṣṭāṅga) in Verbindung gebracht.

Im Mahābhārata (ca. 4. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n. Chr.) lehrt Yājñavalkya ein Yogasystem, das angeblich auch in den Veden vermittelt wird und einige Praktiken enthält, die im Dattātreyayogaśāstra mit ihm in Verbindung gebracht werden. 

Er spielt eine wichtige Rolle in den Schriften wie dem Śatapatha-Brāhmaṇa (ca. 8. Jh. v. Chr) und der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad (ca. 8. Jh. v. Chr), wo er philosophische Lehren darlegt, die für den Vedānta von zentraler Bedeutung sind.

Yājñavalkya zwei Werke zugeschrieben:

  • Das frühere ist das Yogayājñavalkya (600-850 n.Chr), das im späten ersten Jahrtausend entstanden ist. Es beschreibt einen achtgliedrigen Yoga, dessen Namen der acht Aṅgas im Dattātreyayogaśāstra wieder zu finden sind, die aber in ihren Details nicht übereinstimmen.
  • Ein späteres Werk, ebenfalls mit dem Namen Yoga-Yājñavalkya (14. Jh), wurde wahrscheinlich im 14. Jahrhundert n. Chr. verfasst. Dieses Werk beschreibt ein anderes System des achtgliedrigen Yogas, das ebenfalls nicht mit dem im Dattātreyayogaśāstra übereinstimmt.

Kapila – Der vielfältige Lehrer

Die energetisch-körperlichen Techniken, die im Dattātreyayogaśāstra als Teil des Haṭha-Yogas gelehrt werden, werden einem Kapila zugeschrieben.

Kapila wird in der indischen Religionsgeschichte in verschiedenen Rollen dargestellt:

  • Ein Kapila ist als Asket bekannt, der sich gegen die vedische Tradition wendet und dabei oft in Konflikt mit den herrschenden brahmanischen Überzeugungen steht. 
  • Außerdem wird er als wichtiger Vertreter einer nicht-vedischen asketischen Tradition betrachtet, die in der Region Magadha verwurzelt ist. 
  • Kapila ist am besten als Begründer der Sāṅkhya-Tradition bekannt. Hier hat er eine Verbindung zum Yoga. 
  • Darüber hinaus wird einem Kapila die Lehre bestimmter Tugenden zugeschrieben, die für die Erlangung von Befreiung notwendig sind. 
  • Schließlich wird Kapila in einigen Traditionen als Inkarnation von Viṣṇu identifiziert, was seine vielfältige und bedeutende Rolle in der indischen Religionsgeschichte unterstreicht.

Das Dattātreyayogaśāstra ist der erste Text, der Kapila mit den körperlichen Praktiken des Haṭha-Yoga verbindet. Diese Verbindung ist in späteren Texten selten und wahrscheinlich von dieser ersten Erwähnung beeinflusst. 

In der Haṭhapradīpikā werden Kapila und Dattātreya als Weise vorgestellt, die Haṭhayoga praktizierten. In anderen Texten wird erwähnt, dass Kapila und andere Siddhas durch vajrolī die Meisterschaft über den Samen erlangt haben und dass sie die mahāmudrā verwendet haben, um Vollkommenheit zu erreichen.

Sāṃkṛti – Schüler mit verschiedenen Lehrern

Der Weise Sāṃkṛti ist der Schüler von Dattātreya im Dattātreyayogaśāstra und taucht auch in anderen Texten als Wissenssuchender auf:

  • In der Akṣi-Upaniṣad (10.-13. Jh n.Chr) wird Sāṃkṛti von Āditya unterrichtet, was seine Rolle als Schüler mit verschiedenen LehrerInnen hervorhebt.
  • Es gibt spätere Texte, die nach dem Dattātreyayogaśāstra entstanden sind, in denen Sāṃkṛti ebenfalls von Dattātreya im Yoga unterrichtet wird. 

Nr̥siṁha – Der Mensch-Löwe

Im Dattātreyayogaśāstra erscheint Nr̥siṁha, der „Mensch-Löwe“, als Symbol der göttlichen Kraft und des Gleichgewichts. Als vierte Inkarnation (avatāra) Viṣṇus wird er besonders für seine Rolle als Beschützer verehrt.

  • In der Bhagavata Purāṇa (8.-10. Jh n.Chr) tritt Nr̥siṁha auf, um den Tyrannen Hiraṇyakaśipu zu besiegen, der durch asketische Praktiken übernatürliche Kräfte erlangte und sich unsterblich wähnte.
  • Die Gestalt Nr̥siṁhas – halb Mensch, halb Löwe – erfüllt die Bedingungen, unter denen Hiraṇyakaśipu verletzlich ist, und verdeutlicht die göttliche Macht, die sich über das Streben nach unendlicher Macht erhebt.

Nr̥siṁha ist in vielen indischen Traditionen präsent und wird oft in tantrischen Texten und Yoga-Überlieferungen als Leitfigur betrachtet. Besonders die Kriegerkaste verehrt ihn als den „Großen Beschützer“, dessen Kraft über physische Stärke hinausgeht und der für das Streben nach Idealen und Schutzwerte steht

 

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