Patañjali, der Autor des Yoga Sutra - Eine göttliche, mythologische Gestalt
Patañjali, der Autor des Yoga Sūtra, wird in der indischen Mythologie auf vielfältige Weise dargestellt und verehrt. Seine Figur ist von Legenden und Mythen umgeben, die seine Bedeutung und sein Ansehen in der indischen Kultur unterstreichen.
1. Inkarnation von Adishesha:
 Eine weit verbreitete Legende besagt, dass Patañjali eine Inkarnation von Adishesha, der kosmischen Schlange und dem Träger von Vishnu, ist. In dieser Form wird Adishesha oft mit tausend Köpfen dargestellt, die alle heiligen Schriften rezitieren. Diese Assoziation betont Patañjalis Weisheit und spirituelle Autorität.
 2. Göttlicher Ursprung:
 Es wird erzählt, dass Patañjali von der Göttin Ananta geboren wurde. Die Göttin hatte den Wunsch, Wissen und Weisheit in die Welt zu bringen, und so wurde Patañjali als ihr Sohn geboren. Diese Erzählung unterstreicht seine göttliche Herkunft und sein tieferes spirituelles Wissen.
 3. Symbolische Darstellung:
 Patañjali wird oft symbolisch als eine Gestalt dargestellt, die halb menschlich und halb Schlangenwesen ist. Diese Darstellung verbindet seine menschliche Weisheit mit der spirituellen und göttlichen Energie, die die Schlange in der indischen Symbolik repräsentiert.
 4. Verehrung in der Yoga-Tradition:
 Patañjali wird oft als der Vater des Yoga bezeichnet und ist eine zentrale Figur in der Yoga-Tradition. Yogis und Praktizierende rezitieren daher oft das "Patañjali-Pranama-Mantra", ein Gebet zu Ehren Patañjalis, um seine Segnungen für ihre Praxis zu erbitten. Er wird als Lehrer und als großer Weiser verehrt, der die Essenz des Yoga in seinen Sutras zusammengefasst hat.
 5. Dreifache Gelehrsamkeit:
 In einigen Darstellungen wird Patañjali als Meister dreier Disziplinen beschrieben: Grammatik, Medizin und Yoga. Diese Darstellung basiert auf der Annahme, dass Patañjali auch der Autor von drei Büchern ist:
- Mahabhashya: Ein bedeutender Kommentar zur Sanskrit-Grammatik (ca. 2. Jahrhundert v. Chr.)
- Charaka Samhita: Ein grundlegender Text der Ayurveda-Medizin (ca. 1. Jahrhundert n. Chr.).
- Yoga Sūtra: Der grundlegende Lehrtext des Yoga (ca. 5. Jahrhundert n. Chr.).
Diese Sichtweise hebt seine umfassende Gelehrsamkeit und sein tiefes Wissen in verschiedenen Bereichen hervor. 
 Insgesamt wird Patañjali in der indischen Mythologie als eine erleuchtete und göttlich inspirierte Figur gesehen, deren Werk und Lehren einen tiefen Einfluss auf die spirituelle und intellektuelle Tradition Indiens haben.
Vyāsa, der Autor des Kommentars (Bhāṣya) - eine göttliche mythologische Gestalt
Ein Sūtra ist ein Lehrtext, der in einem knappen, kaum Verben enthaltenen Schreibstil verfasst ist. Es hält in leicht memorierbarer Form die wichtigsten Aspekte einer philosophischen Schule fest. Traditionell ranken sich um jedes Sūtra verschiedene Kommentare, die das Sūtra auf unterschiedliche Weise auslegen.
In Indien wird heute traditionell Vyāsa als der Autor eines ersten Kommentars zum Yoga Sūtra gesehen. Vyasa ist dabei eine zentrale Figur in der indischen Mythologie und Tradition. Sein voller Name ist Vedavyasa, was "Sammler der Veden" bedeutet, und er wird oft auch als Krishna Dvaipayana Vyasa bezeichnet. Vyasa wird als einer der größten Weisen und Gelehrten Indiens verehrt und ist mit zahlreichen bedeutenden Werken und Beiträgen zur indischen Literatur und Philosophie durch mythologische Erzählungen verbunden.
1. Inkarnation von Vishnu:
In der hinduistischen Mythologie wird Vyasa als eine Inkarnation des Gottes Vishnu betrachtet. Es wird gesagt, dass Vishnu in menschlicher Gestalt als Vyasa herabgestiegen ist, um die Veden und andere heilige Texte zu ordnen und zu verbreiten. Diese göttliche Herkunft verleiht Vyasa eine besondere spirituelle Autorität und hebt seine Rolle als Vermittler göttlichen Wissens hervor.
2. Autor und Kompilator heiliger Texte:
Vyasa wird traditionell als der Autor und Kompilator vieler bedeutender indischer Texte angesehen. Dazu gehören die Veden, das Mahabharata, die Puranas und das Brahma Sutra. Besonders das Mahabharata, eines der größten Epen der Weltliteratur, wird ihm zugeschrieben. Es umfasst die Bhagavad Gita, die als eines der zentralen spirituellen und philosophischen Werke des Hinduismus gilt.
3. Vyasa-Bhashya:
Vyasa wird auch als der Kommentator der Yoga Sutras von Patanjali angesehen. Sein Kommentar, das Vyasa-Bhashya (ca. 4. Jahrhundert n. Chr.), ist einer der frühesten und wichtigsten Kommentare zu den Yoga Sutras und hat maßgeblich zur Interpretation und zum Verständnis der Yoga-Philosophie beigetragen. Dieser Kommentar stellt eine tiefgründige Analyse und Erklärung der Sutras dar und ist für das Studium des Yoga von großer Bedeutung.
4. Mythologische Erzählungen:
Vyasa erscheint in vielen mythologischen Erzählungen und Legenden. Eine bekannte Geschichte beschreibt seine Geburt. Seine Mutter, Satyavati, war eine Fischerin, und sein Vater, Parashara, ein großer Weiser. Vyasa wurde auf einer Insel im Fluss Yamuna geboren, daher der Beiname Dvaipayana (der Inselgeborene). Nach seiner Geburt wuchs er schnell zu einem jungen Mann heran und verließ seine Mutter, um ein Leben als Asket und Gelehrter zu führen.
5. Guru und Lehrer:
Vyasa wird als ein großer Lehrer und Guru angesehen, der zahlreiche Schüler hatte, darunter die Weisen Vaisampayana und Jaimini. Seine Rolle als Lehrer und Vermittler von Wissen wird in vielen Texten betont, und er gilt als einer der Hauptfiguren in der Guru-Schüler-Tradition des Hinduismus.
6. Symbolische Bedeutung:
Vyasa wird oft mit einem Buch und einem Palmblatt in der Hand dargestellt, was seine Rolle als Autor und Gelehrter symbolisiert. Er wird auch oft mit einem Löwenfell um die Schultern und einer Mala (Gebetskette) gezeigt, was seine Askese und spirituelle Disziplin betont.
Vyasa wird in der indischen Tradition als eine erleuchtete und weise Figur verehrt, deren Werk und Lehren einen tiefgreifenden Einfluss auf die indische Kultur, Philosophie und Religion haben. Seine Fähigkeit, komplexe und tiefgründige spirituelle Lehren zu formulieren und zu verbreiten, macht ihn zu einer herausragenden Figur in der indischen Philosophie und Spiritualität. Die mythologischen Erzählungen und die ihm zugeschriebenen Werke tragen dazu bei, sein Ansehen als einer der größten Weisen und Gelehrten Indiens zu festigen.
Die Mythologie im Blick der Wissenschaft
Mythologische Geschichten haben eine starke symbolische Kraft. Es ist wichtig, diese Mythologie zu würdigen, da sie bildhaft persönliche Erfahrungen und tiefere Wahrheiten ausdrückt. Sie ist nicht falsch, sondern eine andere Art, die Wirklichkeit zu interpretieren.
Die wissenschaftliche Sichtweise hingegen basiert auf empirischen Beweisen und rationaler Analyse. Oft unterscheidet sie sich von der mythologischen Perspektive.
Ich halte es für wichtig, beide Sichtweisen parallel nebeneinander stehen zu lassen. Jede für sich ist richtig und wertvoll, und gemeinsam bieten sie ein umfassenderes Verständnis unserer Welt und Erfahrungen.
Manchmal ist die Welt wie ein Kaleidoskop. Wenn wir hindurch blicken, sehen wir wundervolle Formen und Farben. Wenn wir nur an der wissenschaftlichen Realität interessiert sind, werden wir das Kaleidoskop vermutlich öffnen. Wir werden entdecken, dass all den schillernden Farben nur eine Handvoll Scherben zugrunde liegt. Die magische Illusion des Kaleidoskop ist zerstört.
Daher wünsche ich mir, dass wir, wenn wir die Mythologie mit den Augen der Wissenschaft betrachten, diese nicht zerstören. Denn klar in den Augen der Wissenschaft kann keine göttliche Inkarnation ein Buch oder einen Kommentar verfasst haben. Auch müssten sowohl Patañjali als auch Vyasa sehr alt geworden sein, um die diesen Personen mythologisch zugeschriebenen Werke wirklich verfasst haben zu können.
Doch lassen wir die mythologischen Geschichten um sie und die Entstehung des Yoga Sutra und den Vyasa Bhasha am besten in ihrer mythologischen Schönheit stehen. Betrachten wir stattdessen davon getrennt den Ursprung des Yoga Sutra und des Vyasa Bhashya aus wissenschaftlicher Sicht.
 
							 
			
		
	
						 Dr. Ronald Steiner
							Dr. Ronald Steiner