Vom 4. Jahrhundert über die indische Unabhängigkeitsbewegung bis zur globalen Yoga-Bewegung unserer Zeit – Patanjalis Yoga Sutra hat eine beeindruckende Reise hinter sich. Ein genauerer Blick auf diese Geschichte könnte nicht nur unser Verständnis des Textes schärfen, sondern auch unser Bild von Yoga.

Philosophie und Tradition

Yoga Sutra und Patanjalayogashastra

Vieles an der Geschichte dieses Textes liegt im Dunkeln. Diese Fakten gelten heute als gesichert:

  • Um 400 n.u.Z.:  Entstehung des Patanjalayogashastra (Yoga Shastra), zu dem sowohl die 195 Lehrsätze des Yoga Sutra gehören als auch der Erklärtext Vyasa Bhashya
     
  • Mittelalter: Verschiedene Kommentare nehmen darauf Bezug: Shankara (8. Jh.), Vachaspati Misra (9. Jh), Bhojaraja (11. Jh) und Vijnana Bhikshu (16. Jh)
     
  • 1823: Henry Thomas Colebrooke veröffentlicht erstmals einzelne Sutras in englischer Übersetzung
     
  • 1851–1873: Eine erste englische Übersetzung löst die Sutras aus dem Yoga Shastra – das Yoga Sutra, wie wir es heute kennen, entsteht.
     
  • Ab 1874: Weitere Übersetzungen stellen das Yoga Sutra immer weiter als vom Yoga Shastra getrennten Text vor.
     
  • 1893 Vivekananda auf dem Weltkongress der Religionen.
     
  • 1923 Krishnamarchaya begründet einen von ihm entwickelten neuen körperlicheren Yogastil mit dem Yoga Sutra.

Wie ein Engländer das Yoga Sutra entdeckte

Was wäre, wenn die Geschichte des Yoga Sutra, wie wir es heute kennen, nicht in grauer Vorzeit mit einem sagenumwobenen Gelehrten namens Patanjali begann, sondern im London des Jahres 1804? Damals sandte ein englischer Handelsmann seinen Sohn nach Indien. Anstatt daheim fruchtlose Wissenschaft zu betreiben, sollte sich der junge Henry Thomas Colebrooke lieber um die blühenden Geschäfte seines Vaters innerhalb der britischen Ostindienkompanie kümmern.

Der Plan ging leider nicht ganz auf, denn einmal in Indien angekommen, entwickelte Colebrooke ein neues wissenschaftliches Interesse: Die indische Geschichte und Kultur. Mit einem indischen Lehrer lernte er als einer der ersten Europäer Sanskrit. Zurück in England begründete Colebrooke den ersten Indologischen Studiengang.

1823 veröffentlichte er einige der prägnanten Sätze des Yoga Sutra erstmals für ein europäisches Publikum. Aus seinen Artikeln ist ersichtlich, dass sich Colebrooke bewusst war, dass diese prägnanten Sätze aus einem viel umfassenderen Text namens Patanjalayogashastra stammten.

Die 195 prägnanten Merksätze des Yoga Sutra waren eingebettet in einen umfassenden Erklärtext. Dem Vyasa Bhashya. Vyasa Bhashya lässt sich wörtlich übersetzen als: Die Erklärung (Vyasa) in gewöhnlicher Sprache (Bhashya). Oft wird Vyasa jedoch auch als Eigennahme verstanden. Dann ist es der Kommentar (Bhashya) des Weisen mit dem Namen Vyasa. Beide, das Yoga Sutra und das Vyasa Bhashya formen gemeinsam das Yoga Shastra.

In traditioneller mythologischen Erzählungen ranken sich viele Legenden um Patanjali. So kann das Yoga Sutra von Patanjali weit über 2000 Jahre alt sein. Auch um einen Vyasa ranken sich viele Legenden die Jahrtausende zurückreichen. Wenn man Vyasa als getrennten Autor sah, so wurde sein Kommentar jedoch eher ins frühe Mittelalter datiert.

Doch prominente Indologen und Sanskrit-Gelehrte wie Philipp Maas, James Mallinson und Mark Singleton widersprechen diesem halb mytholgoischen Ursprung seit einigen Jahren: Laut ihren Forschungen handelt es sich beim Yoga Sutra und dem Vyasa Bhashya um einen einzigen Text, eben das Patanjalayogashastra, oder kurz: Yoga Shastra.

Dafür, dass die 195 Sätze des Yoga Sutra und der Kommentar tatsächlich gemeinsam verfasst wurden, spricht vieles:

  1. Nicht nur sind Sutras und Kommentar teilweise bis in die Satzstruktur hinein miteinander verschränkt.
  2. Es gibt auch keine einzige historische Spur des reinen Sutra-Textes vor 1823. Sämtliche erhaltenen ältere Manuskripte überliefern den kompletten Text des Yoga Shastra.
  3. Auch die früheste Übersetzung ins Arabische, die Al-Biruni schon um das Jahr 1000 anfertigte, beruht auf dem kompletten Text des Yoga Shastra.
  4. Sämtliche Kommentatoren des Mittelalters beziehen sich durchgehend auf den gesamten Text. In Shankaras Kommentar beispielsweise, dem Vivarana aus dem 8. Jahrhundert, sind 80 Prozent des Vyasa Bhashya als Zitat enthalten.

Ein Text erobert die Welt

Aber zurück nach England und zu Henry Thomas Colebrooke: Als er 1823 in seinen Artikeln nur einzelne der prägnanten Sutra Sätze vorstellte, tat er das aus ziemlich nachvollziehbaren Gründen: Das Yoga Shastra steht eng im Zusammenhang mit der im Westen damals kaum bekannten Samkhya-Philosophie. Für seine Artikel war es inhaltlich schlichtweg zu komplex und schwer verständlich, zumal die westliche Indologie damals noch in den Kinderschuhen steckte.

Die ersten Übersetzer des Textes taten es ihm gleich: Anstatt den gesamten überlieferten Text samt der Erklärung zu übertragen, beschränkte man sich auf die Patanjali zugeschriebenen Merksätze, die wir heute als Yoga Sutra kennen. Die erste englische Übersetzung der ersten beiden Kapitel von James Robert Ballantyne erschien 1852 und 1853. Govinda Deva Shastri vollendete die Übersetzung mit den Kapiteln 3 und 4 in den Jahren 1868 und 1871.

Wie sie dabei vorgingen, ist nicht ganz leicht nachzuvollziehen. In den Yoga-Shastra-Ausgaben, die ich kenne, sind die Sutra-Sätze nur schwer zu erkennen und auch keineswegs gleichmäßig über das gesamte Yoga Shastra verteilt. Mir drängt sich dabei der Eindruck auf, dass das, was wir heute als Yoga Sutra des Patanjali kennen, in Wirklichkeit eine selektive und sehr perfekte Auswahl für den westlichen Leser der damaligen Zeit war.

Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass dort, wo das Yoga Shastra tief in die alles Weltliche verneinende Philosophie des Samkhya eintaucht, Sutra-Sätze ausgelassen wurden. Auch dort, wo sehr konkrete, allzu mystisch wirkende Techniken beschrieben sind, fehlen Sätze.

Ebenso wurden mythologische Bilder, die für westliche Leser rätselhaft erscheinen mussten, ausgelassen. Das Ergebnis war ein prägnanter Text, der weitgehend im Einklang mit dem analytischen und philosophischen Zeitgeist des Westens stand – und der im Übrigen so vieldeutig war, dass er allen Interpretationen offen stand.

Der Erfolg sprach für sich: Schon bald diskutierten westliche Philosophen wie Schlegel, Humboldt und Hegel über die Weisheit des Yoga Sutra und die indische Philosophie weckte immer mehr Interesse.

Ein neuer Blick auf Indien

Gleichzeitig begann sich der Blick des Westens auf Indien grundlegend zu verändern: Der geheimnisvolle Subkontinent galt nicht länger nur als eine Reichtum versprechende Kolonie am anderen Ende der Welt, sondern wurde als Land der Weisheit und Ideale wahrgenommen.

Vor allem Swami Vivekananda, ein berühmter indischer Gelehrter, trug mit seinen Reden und Büchern viel dazu bei, die geistigen Schätze Indiens – Hinduismus, Vedanta, Yoga und auch das Yoga Sutra – im Westen einem breiten Publikum bekannt zu machen.

Umgekehrt erstarkte auch in Indien ein neues Selbstbewusstsein und ein Stolz auf dieses reiche geistige Erbe. Diese veränderte Sichtweise trug wesentlich dazu bei, dass die britische Kolonialherrschaft zum Ende des 19. Jahrhunderts ins Wanken geriet und schließlich 1947 endete.

Unterdessen wurde das Yoga Sutra in Europa und den USA immer bekannter – und auf unterschiedlichste Weise interpretiert und verarbeitet. Madame Blavatsky beispielsweise, die Mit-Begründerin der Theosophischen Gesellschaft, brachte die Konzepte des Yoga Sutra in den Kontext der damals sehr populären okkulten und spirituellen Bewegungen. Einer ihrer Mitstreiter, William Q. Judge verfasste 1890 sogar eine eigene Übersetzung.

Auch Philosophen und Psychologen ließen sich vom Yoga Sutra inspirieren. Beispielsweise beschrieb der deutsche Psychologe Carl Kellner 1896, wie die von ihm als uralt eingeschätzten, psycho-physiologischen Aspekte des Yoga Sutra sich in der Psychotherapie seiner Zeit widerspiegelten.

Aber auch politische Strömungen waren der "Weisheit des Ostens" gegenüber mehr als aufgeschlossen: Jakob Wilhelm Hauer war Indologe und Mitglied der NSDAP. Er bemühte sich, die Nazi-Ideologie mit den Sätzen aus dem Yoga Sutra in Einklang zu bringen und fertigte eine eigene, dazu passende Übersetzung an.

Sie alle lasen die knappen Sätze des Yoga Sutra auf ihre Weise und aus ihrer Weltsicht heraus. Möglich war das vor allem deshalb, weil ohne die erklärenden Worte des Yoga Shastra viel Raum für die unterschiedlichsten Interpretationen bleibt.

Patanjali im modernen Yoga

Das war auch in Indien nicht anders: Ab den 1920er-Jahren prägte Krishnamacharya eine neue, körperbetonte Yogapraxis, die der Ursprung des heutigen Verständnisses von Yoga ist. Dabei bezog auch er sich explizit auf das Yoga Sutra. Durch die geschickte Neuinterpretation der isolierten Sätze des Yoga Sutra entstand so der Eindruck, dass seine körperliche Yogapraxis aus einer uralten indischen Tradition stammt.

Pattabhi Jois war einer der einflussreichsten Schüler von Krishnamacharya. Er nannte diesen Yogastil mit Bezug auf Patanjalis Yoga Sutra "Ashtanga Yoga" – und strickte genau wie sein Lehrer weiter am Mythos der uralten Tradition, wenn er etwa sagte: "Ashtanga Yoga very very old system”, oder: “This is Patanjali Yoga, never changed anything”.

Eine an sich relativ junge körperliche Yogapraxis erhielt so eine quasi unangreifbare Legitimation: Schließlich sollte sie unverändert und direkt aus dem Yoga Sutra des Patanjali stammen.

Krishnamacharya selbst hat angeblich schon in den 1930er-Jahren einen eigenen Kommentar zum Yoga Sutra verfasst, das Yogavalli. Er diktierte diesen jedoch erst 1988 seinem Sohn Desikachar. Veröffentlicht ist dieser Kommentar bis heute nicht. Die Interpretationen und Übersetzungen seiner Schüler – allen voran die von Iyengar, Desikachar, Mohan und Sriram – nehmen ihren Ursprung auf dieser Interpretation.

Aber was bedeutet das alles für uns moderne Yogi*nis heute? Ich möchte zwei Elemente vorschlagen, die uns helfen können, das Yoga Sutra heute zu lesen und zu verstehen:

Zum einen sollten wir wissen, dass es ursprünglich eingebettet war in das umfassendere Yoga Shastra und damit in die Philosophie des Samkhya. Diese Philosophie betont eine analytische, introspektive Betrachtung des Geistes und sieht darin den eigentlichen Übungsweg.

Das zu wissen und zu würdigen, verpflichtet uns aber nicht, auch so zu üben: Ich finde, wir dürfen uns die Freiheiten nehmen, die Lehrsätze des Sutra, wie schon Swami Vivekananda und Krishnamacharya, relativ frei zu interpretieren.

Diese Freiheit ermöglicht es uns, den Text auf unsere tägliche Yogapraxis und unser aktuelles Leben zu übertragen. Das Yoga Sutra dient so als Inspirationsquelle und praktischer Leitfaden.

Der Autor hat nicht das Monopol zur Interpretation seines Textes.

Und Yoga hat in seiner langen Geschichte genau das immer wieder getan: Die alten Quellen auf neue Weise, aus der eigenen Lebenswirklichkeit heraus interpretiert und mit neuem Leben erfüllt.