Feuchtwarme Luft und das rauschende Geräusch fließender Atmung erfüllten den Raum. Menschen bewegen sich, jeder durch andere Positionen, einem vertrauten Ablauf folgend und jeder im Rhythmus seines eigenen Atems. Ein Lehrer wendet sich im Flüsterton einzelnen Übenden zu, erklärt etwas, hilft weiter. Sonst wird nichts gesprochen, jeder übt für sich.

Philosophie und Tradition

Philosophischer Hintergrund: Von der Erfahrung der Rishis

Vor vielen tausenden Jahren, so berichtet eine Sage aus Indien, tauchten einige Menschen hinter den äußeren Schein unserer physischen Welt. Diese Rishis, wörtlich „Seher“, erfuhren eine ewige, göttliche Wahrheit. Inspiriert von dieser alles verändernden, neuen Sicht auf die Welt, suchten sie nach Wegen, ihre Erfahrung mit anderen Menschen zu teilen. Jedoch liegt die Essenz jenseits des Intellekts und Worte vermögen sie nicht zu beschreiben. Die Rishis begannen die Rhythmen der Welt zu Gesängen verdichtet an eine neue Generation von Menschen weiterzugeben. Auf diese Weise entstanden die Wurzeln der Traditionslinien des Yoga. Mit der Zeit verfestigten sich einige Rhythmen und Gesänge zu den Texten der Veden. Viele andere wurden nie schriftlich festgehalten. Sie wurden ausschließlich mündlich überliefert – und die mystische Erfahrung des Yoga wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Manche der Rhythmen und Gesänge bedienten sich nicht einmal der Sprache, da die eigentliche Erfahrung nicht in Worten ausgedrückt werden kann. Wer in die Praxis des Ashtanga Yoga eintaucht, steht in dieser lebendigen Tradition. Die dynamische Praxis des Ashtanga Yoga ist ein mit Körper und Atem ausgedrückter Gesang, der den Rhythmus der Welt widerspiegelt. Durch konstante Praxis wird der Schlüssel zu dieser unmittelbaren Erfahrung weitergegeben. Tausende von Yogis erfuhren im Laufe der Zeit die Weisheit hinter dem Tanz des Atems mit dem Körper.

Wir befinden uns in einer Ashtanga-Yogaklasse. Die traditionelle Unterrichtsform nennt sich Mysore Style. Benannt ist sie nach Mysore, einer Stadt in Südindien. Von hier aus verbreitete sich Ashtanga Yoga in der ganzen Welt. Mysore Style bedeutet, dass jeder Übende nach seinen Möglichkeiten innerhalb des Übungssystems des Ashtanga Yoga praktiziert. Der Schüler lernt individuell Übung für Übung von seinem Lehrer. In der allerersten Yogastunde wird nur ein kurzer Bewegungsablauf gezeigt – anschließend wiederholt der Schüler diesen, bis er mehr und mehr damit vertraut ist. Im Laufe des Übungsprozesses hilft der Lehrer dabei, weitere Details zu erkennen, andere erschließen sich durch die Praxis von selbst. Wenn der Schüler dafür bereit ist, erweitert der Lehrer die Übungsfolge: Neue Bewegungen werden den bereits bekannten hinzugefügt und es entwickelt sich langsam eine umfangreichere und komplexere Übungspraxis. Dadurch kann der Praktizierende ganz allmählich tiefer in das Verständnis des Ashtanga Yoga eintauchen.

Geschichtliche Entwicklung: Verschlungene Wege einer lebendigen Tradition

Die europäische Fitness-Bewegung
Yoga ist im Grunde untrennbar mit der Fitness-Bewegung verbunden, die in Europa Ende des 19. Jahrhunderts aufkeimte. Die Ideale eines gesunden Körpers und Geistes wurden gepredigt. Zu dieser Zeit wurde körperliches Training Bestandteil einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen in Europa. Im Rahmen dieser Bewegung entstanden verschiedene Formen von Gymnastik, Turnvereine und ein echter Fitness-Kult. Von England aus wurde über Organisationen wie die YMCA und den CVJM das „neue“ Bild des Menschen, insbesondere seines physischen Körpers, auch in die Kolonien getragen. In Indien versuchte man bald, dem Westen nicht nur nachzueifern, sondern ihm eine authentische indische Form der Gymnastik entgegenzustellen. Die Zeit war reif für ein indisches, ganzheitliches, den Körper bejahendes, spirituelles und dennoch physisches Übungssystem.

Verschollene Tradition des Hatha Yoga
Diese Entwicklung war Grund genug für Krishnamacharya, die verschollenen Traditionslinien Indiens zu ergründen. Bereits im 6. Jahrhundert tauchte in Indien ein den Körper einbeziehendes spirituelles Übungssystem auf. Es basierte auf einer tantrischen Philosophie und war bald unter dem Namen Hatha Yoga bekannt. Ab dem indischen Mittelalter wurde diese Praxis allerdings wieder weitgehend verdrängt. Hatha Yoga war den Hindus zu körperbejahend, den Christen zu hinduistisch und den Engländern zu indisch. In Indien galt die Tradition deshalb als verloren. Nur neun Meister sollen in ihr praktiziert und sie gelehrt haben, bevor sie ohne Schüler in der Versenkung verschwand.

Tibetische Traditionslinien
Allerdings finden wir in Tibet etwa im 8. Jahrhundert Zeugnisse über ein Fortführen der Traditionslinie. Die Texte dieses tibetischen Yoga erweitern die im Indischen meist statische Übungsausführung – Bewegung, Atmung und Konzentration werden zu einer gemeinsamen Praxis verknüpft.

Am Fuße des Mt. Kailash
Für Krishnamacharya lag es demnach nahe, sich auf der Suche nach einer lebendigen Tradition eines Übungssystems, welches auch den physischen Körper einbezieht, in den Himalaya zu begeben. Im Jahr 1916, sagt man, sei er dreieinhalb Monate zu Fuß durch die Bergwelt geirrt, bis er am Fuße des Mt. Kailash in Tibet seinen Lehrer Ramamohan Brahmachari fand. Die folgenden siebeneinhalb Jahre verbrachte er bei ihm, um zu lernen, und wurde auf diesem Weg Teil der lebendigen, uralten Tradition. In diesen Jahren lernte Krishnamacharya dynamische Übungsfolgen, streng gehütete Techniken und tiefsinnige Philosophie von seinem Lehrer.

Mysore ab 1924
Nachdem er aus der Einsamkeit der Berge zurückgekehrt was, lebte Krishnamacharya ab 1924 in Mysore. Dort begann er das dynamische Übungssystem, das wir heute unter dem Namen Ashtanga Yoga kennen, weiterzugeben. Pattabhi Jois und B. N. S. Iyengar zählen zu seinen langjährigen Schülern. Als Krishnamacharya im Jahr 1955 Mysore verließ, blieben beide in der Stadt und setzten den Unterricht und die Tradition fort. Schüler dieser beiden Lehrer trugen Ashtanga Yoga in den Westen.

Ashtanga Yoga goes West

Im Jahr 1964 fand der Belgier André van Lysebeth als erster Westler seinen Weg in Pattabhi Jois’ kleine Yogaschule in Mysore. Erst knapp zehn Jahre später folgten weitere Schüler aus Europa und Amerika, um Ashtanga Yoga von Pattabhi Jois und B. N. S. Iyengar zu lernen. Dadurch war im Westen die Ära des dynamischen Yoga eingeläutet. Ashtanga Yoga wurde weitergegeben, praktiziert, erfahren. Die rohe Form aus Indien wurde um Details erweitert und verfeinert. Techniken für Hilfestellungen und die anatomische Ausrichtung wurden perfektioniert. Verschiedene Lehrer gaben dem Übungssystem unterschiedliche Schwerpunkte. Vielschichtig und schillernd, wie ein mehrdimensionales Gewebe, umspannt Ashtanga Yoga heute den Globus und verbindet Yogis auf der ganzen Welt miteinander.

Vielleicht ist Ashtanga Yoga wie Joghurtferment. Wenn man zu Milch ein wenig Ferment hinzufügt, werden die darin befindlichen Bakterien die Milch in Joghurt umwandeln. Egal in welchem Land Ferment mit Milch vermengt wird, es wird immer dasselbe passieren. Dennoch wird der Joghurt jedes Mal etwas anders schmecken. Das Ferment ist dasselbe, aber die Milch ändert sich. So hat auch Ashtanga Yoga überall einen etwas anderen Geschmack, aber es bleibt immer Ashtanga Yoga. Wer einmal das dynamische Übungssystem erlernt hat, kann auf der ganzen Welt in Ashtanga-Yogaschulen üben. Das ist eine schöne Erfahrung und fühlt sich ein bisschen so an, wie auf der ganzen Welt zu Hause zu sein. Nebenbei wird man immer kleine Unterschiede bemerken, die wertvolle Hinweise für die Praxis sein können. Diese Universalität des Ashtanga Yoga, kombiniert mit individuellen Besonderheiten von Lehrer und Schüler, ist Teil seiner besonderen Magie.

Ashtanga Yoga gehört heute zu den bekanntesten und am meisten praktizierten Yogatraditionen der Welt. Neben der traditionellen Übungsform entstand im Westen eine Vielzahl von Abwandlungen und Abspaltungen. Diese Sprößlinge des Ashtanga Yoga sind unter Namen wie Vinyasa Yoga, Power Yoga, Jivamukti Yoga oder Dynamic Yoga bekannt geworden.

Patanjali Yoga

Forscht man nach dem philosophischen Fundament des Ashtanga Yoga, stoßen wir unweigerlich auf das Yoga-Sutra des Patanjali. „This is Patanjali Yoga“ („Dies ist Patanjali Yoga“), pflegte mein Lehrer Pattabhi Jois zu sagen. Genau wie Pattabhi Jois verweisen erfahrene Lehrer der Tradition immer wieder auf das Yoga-Sutra von Patanjali. Die physische Praxis des Ashtanga Yoga wird als Kommentar zu der darin enthaltenen Philosophie verstanden. Erst damit wird ein direkter, auf eigene Erfahrung beruhender Zugang zu den zunächst abstrakt erscheinenden philosophischen Konzepten möglich. Für jeden einzelnen Satz des Sutra gibt es eine Entsprechung in der Praxis.

Der Name Ashtanga Yoga selbst nimmt Bezug auf einen von Patanjali beschriebenen achtgliedrigen Pfad. Die ersten beiden Glieder verlangen nach der praktischen Umsetzung in unserem täglichen Leben, die letzten beiden entwickeln sich spontan auf den vorherigen aufbauend. Dazu ist allerdings die Praxis auf der Yogamatte nötig – die vier mittleren Glieder. Im Ashtanga Yoga werden diese vier mittleren Glieder zu einer einzigen verbundenen Praxis zusammengefasst. Es gilt Harmonie in physischen (Asana), energetischen (Pranayama), emotionalen (Pratyahara) und mentalen (Dharana) Aspekten unseres Menschseins herzustellen.

Die wichtigsten Techniken des Ashtanga Yoga

Der wohl bekannteste Aspekt der Yogapraxis im Westen sind die Körperstellungen des Yoga, die eine Harmonie im physischen Körper herstellen. Im Übungssystem des Ashtanga Yoga ist eine große Anzahl von Positionen (Asanas) zu sechs schrittweise schwerer werdenden Übungsserien zusammengefasst.

Ujjayi:
Sicher einer der auffälligsten Aspekte im Ashtanga Yoga ist die hörbar rauschende Atmung. Der Atem legt den Rhythmus für die Bewegungen fest und dient als Konzentrationshilfe. Atem und Gedanken sind miteinander verbunden. Wird der Atem in ruhigem, gleichmäßigem Rhythmus geführt, kommen auch die Gedanken zur Ruhe.

Kumbhaka:
Wenn der regelmäßige Fluss des Atems erst einmal etabliert ist, unterbrechen fortgeschrittene Übende in einigen Körperhaltungen und für sitzende Atemübungen bewusst diesen Rhythmus: Der Atem wird angehalten und feinstoffliche Energie (Prana) durch den Körper geleitet.

Vinyasa:
Die Dynamik des Ashtanga Yoga entsteht, wenn Atem und Bewegung zusammenkommen. Dies ist die Basis für eine bewegte Meditation, denn sie hilft uns, die Achtsamkeit im Augenblick zu behalten. Auch wenn jede Bewegung anderen Bahnen und Gesetzen folgt, liegt darunter immer der gleichmäßige Atem, der sowohl in Tempo als auch Intensität nach Balance strebt.

Bandha:
Das deutsche Wort „Band“ ist etymologisch mit Bandha verwandt. Die Techniken von Bandha leiten – wie ein Band – die Energie durch den energetischen Körper. In erster Linie geschieht dies durch Konzentration und Vorstellungskraft. Subtile Muskelkontraktionen, die physische Auswirkung von Bandha, erleichtern die Konzentration und bilden die Grundlage für die Ausrichtung des Körpers in den verschiedenen Positionen.

Drishti:
Fokus- und Konzentrationspunkte vervollständigen die Techniken des Ashtanga Yoga. Die Sinnesorgane werden von der äußeren Welt abgezogen – weg von allen Ablenkungen, bewegt man sich in einen Zustand der Sammlung.

Von der Matte ins Leben

Trainierte Körper, anstrengende Positionen und akrobatische Bewegungsabfolgen – mit dieser Beschreibung wird Ashtanga Yoga oft auf das rein Körperliche reduziert. Hinter der Oberfläche übersehen wir leicht, dass die physische Praxis lediglich unser Übungsfeld ist, um eine Weisheit zu erfahren, die schließlich das gesamte Leben durchdringt. Das Leben stellt uns beständig vor neue Aufgaben und Herausforderungen. Es gilt, immer wieder das richtige Maß zu finden und die innere Harmonie zu erhalten. Ist unsere Praxis auf der Yogamatte zu einfach, wirkt sich das im Alltag so aus, dass wir unvorbereitet an Aufgaben herantreten. Erst die intensive, fordernde Körperpraxis kann ein Trainingsfeld für diese Anforderungen werden. Wir können beruhigt sein: Ashtanga Yoga bietet für jeden immer wieder eine Bewegung oder Position, in der es schwer wird, die innere Balance zu finden. Seine Übungsfolgen sind darauf ausgerichtet, uns an einen Punkt der körperlichen Grenze und scheinbaren Unmöglichkeit zu führen – hier beginnt die Arbeit auf dem Yogaweg. Dabei sind die Möglichkeiten, eine Herausforderung zu finden, unendlich: „Jeder Mensch kann Yoga üben – solange er atmen kann“, so formulierte es Krishnamacharya. Einen erfahrener Lehrer schneidert aus den sechs traditionellen Übungsserien einen perfekt passenden Maßanzug für jeden seiner Schüler, egal ob dieser jung oder alt, sportlich oder unsportlich, gesund oder körperlich eingeschränkt ist.

Dr. Ronald Steiner ist Arzt für Sportmedizin und unterrichtet deutschlandweit Yoga. Er steht in der
Tradition des Ashtanga Yoga und gehört zu den wenigen sowohl von Pattabhi Jois autorisierten als
auch von B. N. S. Iyengar zertifizierten Yogalehrern. Nächster Start der Yogalehrerausbildung (BDY) mit Ronald ist im Februar 2012 in München. Weitere Informationen unter: www.ashtangayoga.info