Vielleicht ist Ashtanga Yoga wie Jogurtferment. Wenn man ein wenig Ferment zur Milch hinzufügt, werden die darin befindlichen Bakterien die Milch in Jogurt umwandeln. Egal in welchem Land man das Ferment mit der Milch vermengt, es wird immer das Gleiche geschehen. Aber der Jogurt wird jedes Mal etwas anders schmecken. Das Ferment ist das gleiche, aber die Milch ändert sich. So hat auch der Ashtanga Yoga überall einen etwas anderen Geschmack, aber es bleibt immer Ashtanga Yoga.
Wenn man einmal das Vinyāsa-System erlernt hat, kann man auf der ganzen Welt in eine Ashtanga Shala spazieren und mitüben. Das ist eine schöne Erfahrung und fühlt sich ein bisschen so an, wie auf der ganzen Welt zu Hause zu sein. Daneben wird man kleine Unterschiede bemerken, die wertvolle Hinweise für die eigene Praxis sein können. Diese Universalität des Ashtanga, kombiniert mit individuellen Besonderheiten von Lehrern und Schülern, ist Teil der besonderen Magie des Ashtanga.
Trotz aller kleinerer Unterschiede, wer Ashtanga Yoga unterrichtet, bezieht sich auf die Tradition, die über Krishnamacharya und Pattabhi zu uns in den Westen kam. Mit einem »Never changed anything« – »Ich habe nie etwas geändert« betont jeder Lehrer seinen Rückhalt in der Lehrer-Schüler-Folge. Objektiv betrachtet hat sich der Ashtanga Yoga in der westlichen Welt dennoch weiter entwickelt.
Durch Berührung unterrichten
Ohne viele Worte, durch direkte Berührung einen Übenden in eine Position zu führen, hilft die natürliche Intelligenz des Körpers zu nutzen. Doch die Hilfestellungen, Adjustments genannt, die Pattabhi in den frühen Unterrichtsjahren gab, waren oft noch sehr hart. Muskelzerrungen und Überdehnungen waren an der Tagesordnung. Viele der westlichen Lehrer entwickelten darauf aufbauend fein abgestimmte und wohldosierte Hilfestellungen – Adjustments, die eine Bewegung leiten und vor Verletzungen schützen. Im Austausch zwischen den Lehrern verbreiten sich solche Hilfestellungen in der ganzen Lehrergemeinschaft der Tradition und gewinnen an Feinheit.
Jede neue Position ist eine äußere Aufgabe, um unsere innere Entwicklung anzustoßen – und jeder Mensch findet im Ashtanga Yoga eine Aufgabe, die ihn herausfordert. So werden die äußeren Positionen und Bewegungen zum Übungsfeld, in dem wir unser Inneres erfahren können. So hilft uns die Praxis, die uralte philosophische Weisheit des Yoga zu verstehen. Und das ist die Essenz des Ashtanga Yoga. Denn, wie Pattabhi zu sagen pflegte, »This is Pantañjali Yoga« – »Das ist Pantañjali Yoga«.
Den Wandel im Inneren erfahren
Jeden Tag das Gleiche üben, ist das nicht langweilig? – Diese Frage hört wohl jeder Ashtanga-Yoga-Übende früher oder später. Pattabhi Jois brachte der Tradition eine festgelegte Übungssequenz. Jeder Praktizierende folgt dieser in seiner täglichen Praxis. Doch diese scheinbare äußere Eintönigkeit bringt erst den besonderen Reiz des Ashtanga Yoga. Denn durch das äußerlich Gleiche können wir die Veränderungen in unserem Inneren wahrnehmen. Wir erkennen, wie wir einen Tag mit Übereifer, ein andermal mit Trägheit die Praxis angehen und lernen so von Tag zu Tag die Mitte zu finden. Manche Positionen mögen wir, andere liegen uns nicht. Doch in der festgelegten Sequenz praktizieren wir alle āsansa und lernen so mit innerer Freude auch Situationen zu begegnen, die uns nicht liegen. Die Übungsserien werden fortschreitend schwerer.
Eine Praxis, die darauf wartet, ausgeführt zu werden
Kaum eine Tradition macht es dem Übenden so leicht, eine eigenständige Praxis zu entwickeln, wie der Ashtanga Yoga. Die Praxis ist schon da. Sie wartet nur noch darauf, ausgeführt zu werden. Mysore Style wird der dem Ashtanga Yoga charakteristische Unterrichtsstil genannt. Hier übt jeder nach seinem eigenen Atemrhythmus. Die Übungen und die Abfolge sind ja ohnehin bekannt. Der Lehrer hilft individuell dort, wo noch Unklarheiten herrschen oder Raum für Weiterentwicklung ist.
Wer so jeden Tag das gleiche tut, kann die Oberfläche der Übungsfolgen verlassen und auf eine sehr genaue Ausführung achten. Alignment heißt das Achten auf eine gesunde und harmonische Übungspraxis. Dieses Augenmerk ist sicher eine der westlichen Weiterentwicklungen.
»Everybody can do Yoga« – »Jeder Mensch kann Yoga üben« war die Prämisse von Pattabhi Jois. Doch gerade für Menschen mit körperlichen Einschränkungen gab es in den letzten Jahren in Mysore, auch aufgrund der schieren Anzahl an Schülern, kaum einen gangbaren Weg in die Praxis. Schade, wie ich finde, denn gerade solche Menschen könnten vom therapeutischen Potential des Ashtanga Yoga sehr profitieren. Wer zu mir in den Unterricht kommt, für den werde ich einen passenden Weg finden. Beispielsweise führe ich Menschen mit körperlicher Einschränkung auch mit Hilfe eines Stuhles durch die Bewegungsfolgen. Die Essenz des Ashtanga Yoga wird so für diese zugänglich.
Mit Wissen aus Sportmedizin und Bewegungstherapie kann die dem Ashtanga Yoga innewohnende Heilkraft sich voll entfalten. Denn wer jeden Tag das gleiche tut, der formt auch seinen Körper um. Mit der richtigen Ausrichtung gehen wir so jeden Tag einen Schritt zu mehr Gesundheit und ganzheitlichem Wohlbefinden. – Das ist Yoga-Therapie.
Ein Netz des Lernens und Wachsens
Manches von den westlichen Neuerungen findet dann sogar den Weg wieder zurück nach Mysore. Ein einfaches Beispiel sind die Positionen parivṛtta trikonāsana, dem gedrehten Dreieck, und parivṛtta pārśvakoṇāsana, dem gedrehten Winkelstand. Nach Nancy Gilgoff, einer der frühen Schülerinnen von Pattabhi Jois, wurden diese von den westlichen Praktizierenden eingefügt, da sie sich stimmig in das System einpassten. Pattabhi übernahm diese Positionen dann in seinen Unterricht.
Aber auch außerhalb der formalen Grenzen der Tradition hat der Ashtanga Yoga seine Spuren hinterlassen. Denn von Jivamukti über Sharon Gannon und David Life bis hin zu Brian Kests Power-
Yoga entwickelten sich viele moderne Yoga-Stile aus dem Ashtanga Yoga. Ihre Begründer lernten bei Pattabhi Jois. Auch komplett getrennt erscheinende Traditionslinien haben oft Grundelemente des Ashtanga Yoga in sich integriert.
Im Zentrum der Praxis
Bandha, vinyāsa und dṛṣṭi stehen ohne Frage im Zentrum der Praxis des Ashtanga Yoga. Bandha ist nach der Hatha-Yoga-Pradīpikā eine Technik, die immer abwärtsströmend, sich verbrauchende Energie umzukehren und so symbolisch die Lebenskraft wieder aufzufüllen. Physisch betrachtet richten die bereits von den Nāṭh-Yogis beschriebenen, subtilen Muskelkontraktionen im Schwerefeld der Erde auf. Der Grundstock für Alignment, eine gesunde Übungspraxis, war so schon in den alten Quelltexten des Hatha-Yoga angelegt. Physikalisch gesehen erhöht eine Aufrichtung die Energie unserer Körperhaltung im Raum.
Vinyāsa ist das Zusammenbringen von Atem und Bewegung zu einem gleichmäßigen Rhythmus. Rhythmus bringt Struktur in die Zeit. Physikalisch betrachtet erhöht sich so die Energie in der Dimension der Zeit. Dṛṣṭi bedeutet wörtlich Schau. Es handelt sich um Techniken, bei denen wir unseren sonst stets wandernden Blick auf bestimmte Punkte ausrichten. Der Blick ist mit den ebenso stets wandernden Gedanken verbunden. So bringen wir mit dṛṣṭi unsere Gedanken in Ausrichtung. Physikalisch gesehen erhöhen wir die Ordnung und damit die Energie in unserem Geist.
Bandha, vinyāsa und dṛṣṭi stehen so für eine Ausrichtung in Raum, Zeit und Geist. Die Praxis lädt diese Dimensionen mit Energie auf. Wir werden präsent, achtsam und klar. Schließlich tauchen wir in die unmittelbare Wahrnehmung des Augenblicks ein. Oder, frei nach Pantañjali Yoga-Sutra 1.1: atha yoga-nuśāsanam – jetzt Yoga-Einführung. Der Zustand des Yoga wird in diesem Augenblick erfahren.