Pattabhi Jois sprach Englisch nur bruchstückhaft. An seinem einzigen Buch schrieb er vier Jahre und eine englische Übersetzung kam erst 37 Jahre später. Als Student am Sanskrit-College von Mysore verdiente er mit Yoga-Kursen für Kommilitonen das Nötigste zum Leben. Doch der Yoga spielte im Leben von Pattabhi Jois immer die wichtigste Rolle. Wenn er den Raum betrat, so fühlte ich stets seinen Enthusiasmus für die Praxis und die offene Motivation, mit der er diesen mit uns Schülern teilen wollte. Ein Blick auf das Leben von Guruji, wie seine Schüler Pattabhi liebevoll nannten, soll helfen dies zu verstehen.
Wie ein Übungssystem entsteht
Mit der finanziellen Unterstützung seiner Schüler konnte Pattabhi Jois 1948 ein kleines, nur zwei Zimmer umfassendes Wohnhaus im Lakshmipuram genannten Stadtteil von Mysore erwerben. Dort gründete er das Ashtanga Yoga Research Institute, kurz AYRI. Der Unterricht fand im Wohnzimmer statt. Pattabhi lebte ein einfaches, diszipliniertes Leben, er lehrte voller Enthusiasmus und sein Arbeitstag war lang: Der Unterricht begann um 4.30 in der Früh und auch abends gab er außer an Voll- und an Neumondtagen noch Stunden. Ins Zentrum seines Unterrichts stellte er den therapeutischen Nutzen der Körperübungen. Er beschäftigte sich eingehend mit den individuellen Befindlichkeiten seiner Schüler und half jedem individuell eine Übungspraxis zu entwickeln. Viele angesehene Persönlichkeiten aus Mysore lernten von Pattabhi. Selbst Ärzte schickten ihm Patienten für die Yoga-Therapie.
1956 besserte sich dann auch die finanzielle Situation der Familie Jois. Pattabhi erlangte den Status eines Professors am Sanskrit-College von Mysore. Für seinen Yoga-Unterricht dort wurde er nun besser bezahlt. Pattabhi beginnt nun, im Jahr 1958, an einem Buch zu schreiben. Als Titel wählt er »Yoga Mala«. Mala heißt Girlande oder Gebetskette.
Die Positionen des von Pattabhi Jois unterrichteten Übungssystems gliedern sich wie die Perlen einer Mala aneinander. Zusammengehalten werden sie über mit dem Atem verbundene Positionen, das sogenannte Vinyāsa-System. Die Yoga Mala erscheint 1962 und beschreibt mit nur minimalsten Abweichungen die bis heute im Ashtanga Yoga praktizierte erste Übungsserie. Sie trägt den Namen Yoga Cikitsa, was soviel wie Yoga-Therapie heißt.
Wie der Westen auf Pattabhi Jois aufmerksam wurde
Ein kleines Foto in einem von vielen Yoga-Büchern setzte eine Revolution in Gang, brachte Amerikaner und Europäer nach Indien zu Pattabhi Jois und den Ashtanga Yoga in den Westen. Auslöser war der Besuch des Belgiers André van Lysebeth 1964 in der kleinen Yoga-Schule von Pattabhi Jois in Mysore. Mit seinem fundierten Vorwissen in Yoga und Sanskrit war er an diesem Übungssystem interessiert und verbrachte zwei Monate bei Pattabhi Jois. André soll in dieser Zeit die erste und zweite Serie des Ashtanga Yoga gelernt haben. Die Zweite Serie heißt »Nāḍī Śodhana«, Reinigung der Energiekanäle. Inwieweit das von André erlernte Übungssystem schon der heute üblichen zweiten Serie des Ashtanga Yoga entsprach, ist leider unbekannt.
Etwa zu dieser Zeit erweiterte Pattabhi Jois gerade sein kleines Wohnhaus um einen separaten Yoga-Raum, der immerhin zwölf Schüler fasste, so dass er nicht mehr im eigenen Wohnzimmer unterrichten musste. Unter den vielen Büchern, die André van Lysebeth in den darauf folgenden Jahren schrieb, trägt eines den Titel »Prāṇāyāma« und wurde von ihm direkt nach seiner Zeit mit Jois verfasst. Dieses Buch beinhaltet ein Foto des Gurus zusammen mit seinem Namen und der Adresse. So verbreitete sich der Name Pattabhi Jois langsam in der westlichen Welt, hauptsächlich jedoch in Europa. So waren unter den ersten Westlern, die nach Indien reisten, um Pattabhi zu treffen, viele Europäer. 1971 verließ Pattabhi Jois erstmals Indien. Einer Einladung folgend hielt er eine Rede auf Sanskrit anlässlich einer internationalen Yoga-Konferenz in Sao Paulo. Wenig später, im Jahr 1973, gibt Pattabhi seine Professur am Sanskrit-College von Mysore auf. Er möchte sich ganz dem Unterricht des Yoga widmen.
Wie Ashtanga Yoga beliebt wird
Der erste Amerikaner, der bei Pattabhi Jois Yoga-Unterricht nahm, war Norman Allen im Jahr 1971. Er besuchte im Svāmī Gitananda Ashram in Pondicherry eine Yoga-Demonstration, die von Manju Jois, dem Sohn von Pattabhi, gegeben wurde. Beeindruckt vom Gesehenen machte er sich auf den Weg, dieses Yoga-System zu lernen.
Ein wenig später kamen David Williams und Nancy Gilgoff in der kleinen Yoga Shala in Mysore an. David Willisams war, nach eigenen Angaben, nach etwas mehr als einem Jahr Unterricht bei Pattabhi Jois im Jahr 1974 der erste Westler, der alle Übungsserien des Ashtanga Yoga erlernte und auch der erste von Pattabhi Jois zertifizierte Lehrer. Den Namen »Sthira Bhaga«, erhabene Ruhe, tragen die weiteren Übungsserien. Sie umfassen progressive, körperlich anspruchvolle und athletische Positionen. Diese Übungsserien entwickelten sich im späteren Unterricht von Pattabhi Jois noch erheblich. Im Gegensatz dazu sind bei den ersten beiden Übungsserien nur geringe Veränderungen über die Zeit zu beobachten.
David und Nancy waren es auch, die im Jahr 1975 Pattabhi Jois nach Kalifornien einluden. Dort unterrichtete Pattabhi Jois für vier Monate. Nur zehn oder 15 Teilnehmer umfasste dieser erste Workshop. Ein kleiner Anfang, wenn man weiß, wie viele später zu Pattabhis Workshops kammen. Auf dieser Reise begleitete auch Manju Jois seinen Vater und beschloss, in Amerika zu bleiben und die traditionelle Technik des Ashtanga Yoga dort zu verbreiten.
Die Zeit verstrich und der Ashtanga Yoga wurde mehr und mehr in der westlichen Welt bekannt. Pattabhi Jois wurde zu vielen Workshops nicht nur in den USA, sondern auch in Brasilien, England und vielen anderen Ländern eingeladen. Die Zahl der Schüler stieg allmählich. Die morgendliche Schlange vor der Yoga Shala in Lakshmipuram wurde länger. Die Schluss-Sequenz mitsamt Endentspannung wurde in einen kleineren Raum eine Etage höher verlegt. So wurde früher ein Nachrückplatz für den nächsten Praktizierenden frei. Man sagt, Amma, wie die Frau von Pattabhi liebevoll von den Schülern genannt wurde, setzte sich schließlich für unterrichtsfreie Samstage durch. So hatte Pattabhi, zusätzlich zu den freien Voll- und Neumondtagen, einen Tag pro Woche Zeit für Erholung und Familie.
Um 1978 verstarb Ramesh, der jüngste Sohn von Pattabhi. Der Tod traf die Familie wie ein Schock. Über die genauen Umstände wird wenig gesprochen. Man munkelt jedoch von einem Selbstmord. Als strenggläubiger Hindu gab Pattabhi mit diesem Tag das ihm Wichtigste ab. Es war seine eigene Yoga-Praxis. Der Tod von Amma im Jahr 1997 war ein weiterer schwerer Verlust für Pattabhi und die Familie.
Eddy Stern war es, der schließlich im Jahr 1999 das einzige Buch von Pattabhi Jois, die Yoga Mala, ins Englische übersetzte und die Zahl der westlichen Schüler in Mysore stieg ungebremst weiter an. Die morgendliche Praxis erstreckte sich von 4.30 Uhr bis oft weit in den Nachmittag hinein. Ein Unterricht in der alten Shala war kaum mehr möglich. So zog im Jahr 2003 die Jois-Familie nach Gokulam, einem Vorort von Mysore, um und eröffneten dort eine neue, wesentlich größere Shala. Täglich üben hier teilweise über 200 Yoga-Schüler aus der ganzen Welt.
Der Unterricht von Pattabhi und das Übungssystem des Ashtanga Yoga entfalten sich weiter. Grenzten die Hilfestellungen der frühen Jahre teilweise an Körperverletzung, so leitete Pattabhi nun sanfter und achtsamer in die Positionen. Viele der westlichen Schüler blicken nun schon auf Jahrzehnte Praxiserfahrung. Sie bringen Erkenntnisse aus Anatomie und Bewegungslehre in die Praxis ein. Auch wenn Pattabhi selbst nie direkt über eine gesunde Ausrichtung in den Körperhaltungen und Bewegungen sprach, wird dieses »Alignment« bei den Praktizierenden der Tradition zu einem wichtigen Thema. Zweimal pro Woche gibt es nun geführte Stunden, Led Class, in denen die ganze Präzision von Atem und Bewegungen, Vinyāsa System, erkennbar wird. An den übrigen Tagen der Woche wird weiterhin im bewährten Mysore Style unterrichtet. Hier übt jeder nach seinem eigenen Atemrhythmus. Nur bei Schwierigkeiten oder Unklarheiten unterstützte Pattabhi. Die Tochter von Pattabhi, Saraswati (geb. 1941) und deren Sohn, beziehungsweise Pattabhis Enkelsohn, Sharath (geb. 1971) assistierten nun beim Unterricht.
Eine Tradition lebt weiter
Guruji, so wird Pattabhi bis heute von seinen Schülern liebevoll genannt, verstarb im Alter von 93 Jahren am 18. Mai 2009. Seine Familie führt die Tradition in Mysore weiter: Bis heute unterrichten Jois´ Tochter Saraswati und sein Enkel Sharath Rangaswamy Jahr für Jahr hunderte Schüler aus der ganzen Welt in der berühmten Shala in Mysore im Ashtanga Yoga.
Literatur
- Donahay, Stern: Guruji – A Portrait of Sri K. Pattabhi Jois Through the Eys of His Students