Mögen alle durch die Gnade der großen Göttin (mahāmāyā) [des Yogas] Glückseeligkeit (sukha) erfahren. Deshalb möge man sie lobpreisen, sie mit der alles verbunden ist.
Mahāmāyā - Die große Illusion
Durch ihre Schöpfung entsteht das Leiden, doch sie ist auch die Ursache für die Befreiung (mokṣa).
Ein Kern-Element nahezu aller Yoga-Traditionen ist es, unsere Anhaftung an den materiellen Aspekt der Welt zu transzendieren. Die verschiedenen Traditionen bieten dazu unterschiedlichste Techniken an. Schließlich können wir das hinter der materiellen Welt stehende Selbst (Ātman) bzw. das reine Bewusstsein oder den wahren Wesenskern erfahren.
Mahāmāyā lässt sich wörtlich als die “große Illusion” übersetzen. Diese “große Illusion” bezieht sich primär auf unsere Identifikation mit der sich stets wandelnden physischen Materie, anstatt mit dem unveränderlichen Wesenskern. Wir glauben wir wären unser Körper, unsere Gedanken, Erinnerungen, Geld, Auto oder Beruf.
Da sich diese physische Materie jedoch in dauerhaftem Wandel befindet, entsteht automatisch Leiden. Diese Materie wird als Mahāmāyā bezeichnet. Daher möchten die Yoga-Praktizierenden die “große Illusion” transzendieren.
Mahāmāyā - Die Göttin
Mahāmāyā ist zudem ein Name der Göttin Durgā. Mahāmayā ist also ist die vergöttlichte Materie, die Muttergöttin. Sie ist Ursprung und Urquell jeglicher materieller Erscheinung. Ohne sie bestünde nur Leere im Universum.
Die Verehrung der großen Göttin ist eine der ältesten Formen hinduistischer Religiosität und war bereits Teil der Religion in der Industalkultur. Ein Erstarken dieses Ausdrucks hinduistischen Glaubens lässt sich durch die gesamte tantrische Literatur feststellen. Über die tantrischen Yoga-Traditionen tradierte sich dieser Aspekt der hinduistischen Spiritualität auch in die frühen Texte des Haṭha-Yoga.
Der Gedanke einer Mutter-Göttin, die der Urgrund aller Materie ist, ist uns als Europäer nicht so fern. Denn in der indo-europäischen Sprachfamilie entstand das Wort für die physische Welt, “Materie”, etymologisch aus Mutter. Im lateinischen “mater” sehen wir diese Abstammung noch deutlicher. Gefühlt scheint also auch für uns Europäer die physische Welt wie eine Mutter zu sein.
Als Urgrund der physischen Materie ist Mahāmāyā auch das Vehikel und Verursacherin der Befreiung (mokṣa). Denn nur in einem Körper und mit einem Geist können wir Yoga praktizieren.
Schließlich interagiert die befreite Seele (Jīvanmukti) am Ziel des Yogaweges ohne alle Banden in perfekter Harmonie und Meisterschaft mit der Materie. Es ist der Zustand in dem die Einzelseele (jīva) und der materielle Aspekt dieser Seele, also Körper und Geist zur Harmonie finden. Daher wird im vorletzten Vers nur durch die Gnade der Göttin die Glückseeligkeit erfahren.
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