Im Ashtanga Yoga gedenken wir mit diesem Mantra dankbar der uralten Tradition, erinnern uns aber zugleich, worum es uns bei der Praxis geht: Es geht darum, unsere Essenz, unsere wahre Natur zu erkennen. Wir beziehen uns dabei auf Patanjali, der mit seinem Yoga Sutra die philosophische Basis bildet.

Mantra
oṁ
oṁPartikel
Om

OM

vande1. Person Singular Indikativ Präsens
vandVerb
ich verneige mich
gurūṇāmGenitiv Plural
guruSubstantiv Maskulin
der Lehrmeister
caraṇaTatpuruṣa-Kompositum Genitiv
caraṇaSubstantiv Maskulin
Fuß
caraṇaSubstantiv Maskulin
carVerbalwurzel
Fuß
carVerbalwurzelgehen, wandern
aravindeAkkusativ Dual
aravindaSubstantiv Neutrum
vor den beiden Lotussen
saṁdarśitaKarmadhāraya-Kompositum
saṁPräfixdarśitaAdjektiv
enthüllt
samPräfixzusammen, völlig
darśitaPartizip Perfekt Passiv
dr̥śVerbalwurzel
gezeigt
dr̥śVerbalwurzelsehen
svātmaTatpuruṣa-Kompositum Genitiv
svaPräfixātmanSubstantiv Maskulin
des eigenen Selbsts
svaAdjektiveigen
ātmanSubstantiv MaskulinSelbst
sukhaKarmadhāraya-Kompositum
sukhaAdjektiv
einfach, leicht, süß
avabodheLokativ Absulotiv Singular
avabodhaSubstantiv Maskulin
Erkenntnis

Ich verneige mich vor den Lotusfüßen [meiner] Lehrmeister (guru), weil sie [die Lehrmeister] die süße Erkenntnis des eigenen Selbst (svātma) enthüllen.

Dr. Ronald Steiner


I worship the Guru’s lotus feet - Awakening the happiness of the Self revealed

Pattabhi Jois - 1999

niḥśreyaseLokativ Singular
niḥPräfixśreyasSubstantiv Neutrum
völliges Wohlergehen
niḥPräfixverstärkender Partikel
śreyasSubstantiv NeutrumWohlergehen
jāṅgalikāyamāneLokativ Absulotiv Singular
jāṅgalikayamānaAdjektiv
weil er wie ein Arzt
jāṅgalikāyamānaPartizip Präsens Medial
jāṅgalikayatiVerb
sich wie ein Arzt verhaltend
jāṅgalikāyatiDenominativ
jāṅgalikaSubstantiv Maskulin
er verhält sich wie ein Arzt
jāṅgalikaSubstantiv Maskulin
jāṅgalaSubstantiv Maskulin
Dschungel-Arzt
jāṅgalaSubstantiv MaskulinDschungel
saṁsāraTatpuruṣa-Kompositum Genitiv
saṁsāraSubstantiv Maskulin
Gang der Welt
samPräfixzusammen
sāraSubstantiv Maskulin
sarVerbalwurzel
Lauf, Gang
sarVerbalwurzellaufen, gehen
hālāhalaTatpuruṣa-Kompositum Genitiv
hālāhalaSubstantiv Neutrum
ein bes. starkes Gift
mohaTatpuruṣa-Kompositum Genitiv
mohaSubstantiv Maskulin
Illusion, Irrtum, Verblendung
mohaSubstantiv Maskulin
muhVerbalwurzel
Illusion, Irrtum, Verblendung
muhVerbalwurzelverirren
śāntyaiDativ Singular
śāntiSubstantiv Feminin
zum Zwecke der Heilung

und weil sie wie ein Arzt völliges Wohlergehen bringen um die Illusion (moha), das stärkste Gift (hālāhala) des Weltengangs (saṁsāra), zu heilen.

Dr. Ronald Steiner


Beyond comparison, acting like the jungle phyiscian - To pacify delusion from poison of existence.

Pattabhi Jois - 1999

ābāhuBahuvrīhi-Kompositum
ābahuSubstantiv Maskulin
Einer der einen Oberkörper hat
āPräfixbis zu
bahuSubstantiv MaskulinArme, Unterarme
puruṣaTatpuruṣa-Kompositum Genitiv
puruṣaSubstantiv Maskulin
Mensch
ākāramAkkusativ Singular
ākāraSubstantiv Maskulin
Form, Figur, Gestalt
śaṅkhaDvandva-Kompositum
śaṅkhaSubstantiv Maskulin
Muschelhorn
cakraDvandva-Kompositum
cakraSubstantiv Neutrum
Diskus
asiBahuvrīhi-Kompositum
asiSubstantiv Maskulin
Schwert
dhāriṇamNeutrum Akkusativ Singular
dhārinAdjektiv
tragend

Vor dem, der am Oberkörper (ābāhu) von menschlicher Gestalt (puruṣākāra) ist, der Muschelhorn (śaṅkha), Diskus (cakra) und Schwert (asi) trägt,

Dr. Ronald Steiner

sahasraBahuvrīhi-Kompositum
sahasraZahlwort
tausend
śirasamAkkusativ Singular
śirasaSubstantiv Maskulin
Kopf
śvetamMaskulin Akkusativ Singular
śvetaAdjektiv
strahlend
praṇamāmi3. Person Singular Indikativ Präsens
praPräfixnamVerbalwurzel
ich verneige mich
pra-Präfixvor
namVerbalwurzelsich beugen, verneigen
patañjalimAkkusativ Singular
patañjaliSubstantiv Maskulin
Patanjali

der tausend strahlende Köpfe (sahasra-śirasa) hat, vor ihm verneige ich mich - vor Patañjali.

Dr. Ronald Steiner

oṁ
oṁPartikel
Om

OM

vande gurūṇām: Verneigung vor der Tradition

Gleich zu Beginn des Mantra denken wir an all die Yogis, die vor uns bereits den Yoga praktizierten, entwickelten und kultivierten. Bei dem Genitiv Plural in "gurūṇāṁ" können wir an all die Lehrer denken, von denen wir Inspiration erhalten haben und an all deren Lehrer.

svātma: Im Grunde geht es darum, unsere wahre Natur zu erkennen

Zwar unterlagen die Techniken des Yoga stets dem Wandel der Zeit. Im Grunde ging es jedoch immer um die gleiche Essenz, nämlich sein wahres Selbst "svātma" zu erkennen.

moha-śāntyai: Die Heilung von der Verwechslung

Wie im Yoga Sutra, so sieht auch dieses Mantra die Ursache des Leidens in der Verwechslung. Wir verwechseln das Vergängliche mit dem Ewigen. Nur durch diese Verwechslung versetzen uns die unabdingbaren Veränderungen dieser Welt in Leiden.

Ursprung des ersten Teils des Mantras

Bemerkenswert ist, dass jeder der Schüler von Krishnamacharya eine eigene Version dieses Mantras erhielt und später an seine Schüler weitergab.So beginnt Sri K. Pattabhi Jois das Maṁtra mit einem Vers, der aus dem Shaiva-Hinduismus stammt und so im Kontrast zum ansonsten vom Vaishnava-Hinduismus geprägten Rest zu stehen scheint. Shankarachaya ist in seinem Werk, dem Yoga Taravalli, der Autor der ersten zwei Zeilen.

Patañjali, halb Mensch halb Schlange

Über die historische Person von Patañjali ist nichts bekannt. Wir wissen noch nicht einmal, ob der Autor des Yoga Sūtra überhaupt eine Einzelperson war. Vieles spricht dafür, dass das Yoga Sūtra ein möglicherweise über mehrere Jahrhunderte hinweg entstandenes Werk war, in das viele Urheber ihre Ideen einbrachten.

Mythologisch wird Patañjali als eine Inkarnation von Ananta, der Weltenschlange, beschrieben. Daher wird er meist als halb Mensch, halb Schlange dargestellt. Die Schlange bildet aufgerollt eine Basis für den aufrecht sitzenden menschlichen Oberkörper. Ananta heißt wörtlich "Unendlich". Ananta gilt als der König der Nāga, von schlangenförmigen Luftwesen. Die Nāga werden in Indien bis heute als ein Symbol für Weisheit verehrt. Die 1.000 strahlenden Köpfe symbolisieren hier nochmals die Unendlichkeit.

Muschelhorn, Diskus und Schwert

Das Muschelhorn ist ein Symbol für den Klang, aus dem alles entstand. Der Diskus ist ein Symbol für die Zeit, die alles zerstört. Patañjali überwindet mit seiner Lehre, so die Symbolik, Anfang und Ende.

Ob Patañjali hier ein Schwert hält und was dieses symbolisiert, wird immer wieder diskutiert. Mir sind aktuell keine Darstellungen bekannt, in denen Patañjali ein Schwert hält. Auch ist es ungewöhnlich, dass eine mythologische Figur drei Gegenstände hält. Zwar haben einige mythologische Figuren durchaus mehr als zwei Arme, doch üblicherweise ist die Anzahl der Arme gerade. Auch wenn die Wortstellung dann ungewöhnlich ist, könnte man asi als 2. Person Singular mit "Du bist" übersetzen.

Ich habe mich hier dennoch entschieden, asi als Schwert zu übersetzen, denn die gesamt Grammatik des Satzes macht nach meinem Verständnis nur so Sinn. Auch ist das Schwert ein wunderschönes Symbol für die Unterscheidungskraft (viveka) und diese ist eines, vielleicht sogar das wichtigste Werkzeug zum Erreichen von Freiheit (mokṣa) im Yoga Sūtra von Patañjali.

Ursprung des zweiten Teils des Mantra

Der zweite Teil dieses Mantra taucht ausschließlich in der Traditionsfolge von Krishnamacharya auf. Ganz ähnliche Beschreibungen von Ananta bzw. Śeṣa finden sich im Vaishnava-Hinduismus. Insbesondere in der Śrīmad Bhāgavatam und Kūrmapurāṇa. Durch unterschiedliche erste Teile und Anfügungen am Ende entstehen bei den Schülern von Krishnamacharya jeweils unterschiedliche Mantren.

Das Ashtanga Yoga Mantra - Dr. Ronald Steiner 20.7.2016

Gesungen von Dr. Ronald Steiner, Aufnahme & Ton Roald Raschner (rr-mupro.de).

Das Ashtanga Yoga Mantra - Dr. Ronald Steiner 31.7.2015

Gesungen im Rahmen der AYI Advaned Ausbildung.