Im nondualen Śaiva Tantra führt Śiva fünf göttliche Handlungen aus: Schöpfung, Erhaltung, Auflösung, Verhüllung und Enthüllung. Diese prägen die Realität und das individuelle Erleben, führen zur Erkenntnis der göttlichen Natur und zur Befreiung im Leben.

Philosophie und Tradition

Śiva in der göttlichen Trinität des Mainstream-Hinduismus

Mit “trimūrti” wird die Trinität der höchsten Gottheit im Hinduismus bezeichnet. Die kosmischen Funktionen der Schöpfung, Bewahrung und Zerstörung werden als drei Gottheiten personifiziert. Typischerweise werden Brahmā als der Schöpfer, Viṣṇu als der Bewahrer und Śiva als der Zerstörer bezeichnet.

Das geht beispielsweise aus einem Vers des Viṣṇu Purāṇa (1.2.66) hervor, der Brahmā, Viṣṇu und Śiva zusammen in einem Vers erwähnt:

sṛṣṭisthityantakaraṇīṃ brahmaviṣṇuśivātmikām I
sa saṃjñāṃ yāti bhagavāneka eva janārdanaḥ II

"Janārdana, der wahrlich einzige Erhabene, nimmt die Bezeichnungen Brahmā, Viṣṇu und Śiva an, je nachdem ob er erschafft, bewahrt oder zerstört.” 

Im typischen Hinduismus als Religion steht Śiva also vor allem für die Handlung der Zerstörung. Im Gegensatz dazu bietet das nonduale Śaiva Tantra eine tiefgründige und umfassende Sicht auf die Rolle Śivas. Śiva übernimmt hier also die Bezeichnung des abstrakten Göttlichen als ganzes. Im Zentrum dieser Lehre stehen fünf göttliche Handlungen, die das Wesen der Realität und unseres individuellen Erlebens prägen.

Die fünf göttlichen Handlungen im nondualen Śaiva Tantra

Im nondualen Śaiva Tantra pulsiert das universelle göttliche Bewusstsein, Śiva und Śakti, in einem ständigen Rhythmus von fünf kosmischen Handlungen, durch die es sich in Zyklen von Schöpfung und Auflösung als reale Welt manifestiert. Die fünf göttlichen Handlungen spiegeln sich in den Gesten von Śivas kosmischem Tanz als Naṭarāja wider (siehe Bild und Tabelle). Während im Mainstream Hinduismus diese Gesten oft anders interpretiert werden, stehen sie im tantrischen Sinn für tiefere kosmische Prozesse. Der Tanz des Naṭarāja symbolisiert die göttlichen Handlungen, die das Universum in jedem Moment gestalten.

Im ersten Maṅgala-Vers des zentralen Śaiva Tantra Textes Pratyabhijñā-Hṛdayam würdigt Kṣemarāja diese fünf Handlungen:

namaḥ śivāya satataṁ; pañca-kṛtya-vidhāyine l
cid-ānanda-ghana-svātma;-paramārthavabhāsine lI1lI

“Verehrung für Śiva, der stets die fünf Handlungen ausführt [und], der die höchste Wahrheit des eigenen Selbst zu Tage treten lässt, was voller Freude des Bewusstseins ist.”

Dieser Vers hebt die zentrale Bedeutung der fünf göttlichen Handlungen hervor, durch die Śiva als universelles Prinzip das gesamte Dasein formt und durchdringt.

Diese Handlungen beschränken sich jedoch nicht nur auf die großen kosmischen Prozesse der Erschaffung und Auflösung des Universums. Sie vollziehen sich gleichzeitig in jedem Moment durch jedes Individuum – unabhängig voneinander und kontinuierlich. Unsere alltägliche Erfahrung wird von diesen Handlungen durchdrungen. Dabei ist es das universelle Selbst, das die fünf göttlichen Handlungen vollzieht, und nicht der konditionierte, denkende Verstand.

Die fünf göttlichen Handlungen im Detail

Die fünf göttlichen Handlungen werden in verschiedenen tantrischen Quelltexten beschrieben. Im Kommentar zum Sūtra 10 des Pratyabhijñā-Hṛdayams finden wir darüber hinaus das vereinfachte Beispiel eines blauen Tonkrugs für die einzelnen Akte. Im Folgenden werden die fünf göttlichen Handlungen detaillierter beschrieben, wie sie im nondualen Śaiva Tantra verstanden werden.

(1) sṛṣṭi - Schöpfung, Emission, Manifestation, Ausströmen 

Bei diesem Akt fließt das Bewusstsein gewissermaßen in eine wahrnehmbare Form. Es ist das Ausströmen des Selbstausdrucks. Jedes Objekt, jeder Gedanke, jede Erfahrung, Emotion oder was auch immer geht aus Bewusstsein hervor.

Beispielsweise nehmen wir jetzt einen blauen Tonkrug auf einem Tisch wahr. Das universelle göttliche Bewusstsein drückt sich in einer bestimmten Form (Topf), in einer bestimmten Farbe (blau), an einem bestimmten Ort (auf dem Tisch), zu einer bestimmten Zeit (jetzt) aus.

(2) sthiti - Erhaltung, Bewahrung, Stillstand

Hierbei handelt es sich um die Aufrechterhaltung und Unterstützung von etwas, das für eine bestimmte Zeitspanne geschaffen wurde.

Durch bewusste Aufmerksamkeit für diesen blauen Tonkrug bleibt diese Wahrnehmung erhalten.

(3) saṁhāra - Zurückhalten, Auflösung, Zurückziehen

Dieser Akt bewirkt das Zurückhalten potentieller Phänomene oder die teilweise Auflösung aktueller Phänomene zurück in das universelle Bewusstsein in nicht manifestierter Form.

Bei Wahrnehmung des blauen Tonkrugs werden andere Eigenschaften (eine andere Form, eine andere Farbe, ein anderer Ort etc.) zurückgehalten, obwohl sie potentiell vorhanden sind. Sie sind nur nicht Teil der aktuellen Wahrnehmung. Wird die bewusste Aufmerksamkeit für den blauen Tonkrug nicht länger aufrechterhalten, löst er sich teilweise zurück in die Potentialität auf. 

(4) nigraha / tirodhāna - Vergessen, Verbergen, Verdecken

Damit das Bewusstsein sich in einer bestimmten Form manifestieren kann und die Vielgestaltigkeit der Welt möglich wird, muss es sich gewissermaßen selbst vergessen und beschränken. Dies geschieht aus freiem Willen, durch Kontraktion und durch die Kraft der Differenzierung (māyā). 

Der Akt des Vergessens geschieht dadurch, dass wir den blauen Tonkrug als etwas von uns Getrenntes wahrnehmen. Wir erkennen nicht, dass der blaue Tonkrug ein Ausdruck des universellen göttlichen Bewusstseins ist, mit dem unser Selbst identisch ist.

(5) anugraha - Enthüllung, Gnade, Erinnern, Offenbarung

anugraha bedeutet wörtlich übersetzt “das, was auf das Begreifen folgt”. Es ist die Offenbarung der Tatsache, dass alles nichts anderes als Bewusstsein ist und direkt erfahren werden kann. Dieser Akt löst das Vergessen wieder auf. 

Wenn wir den blauen Tonkrug, während wir ihn wahrnehmen können, als untrennbar vom Bewusstsein direkt erfahren (nicht als Gedanke), ist das der Akt des Erinnerns oder der Enthüllung unserer wahren universellen göttlichen Natur.

Das Realisieren, dass unser Selbst diese fünf Handlungen in jedem Moment vollzieht, führt mit steter Praxis, Hingabe und fester Entschlossenheit zur Offenbarung unserer eigenen Göttlichkeit. Dann erleben wir, dass alle Dinge die Entfaltung unserer eigenen Natur sind und wir erleben die Befreiung zu Lebzeiten (jīvan-mukti). 

Die Besonderheiten in der Krama-Tradition

Die Krama-Tradition innerhalb des nondualen Śaiva Tantras lehrt eine geheime Variante der fünf Handlungen, die einen wichtigen Baustein auf dem spirituellen Pfad zur Befreiung in sich trägt. Die Quelltexte betonen, dass die Unterweisung durch einen wahren Lehrer (sadguru) für das Verständnis der fünf Handlungen im Sinne der Krama-Tradition unverzichtbar ist.

Eine Gegenüberstellung der beiden Varianten findet sich in der Tabelle. 

Die fünf Handlungen aus der Krama-Tradition werden im Sũtra 11 des Pratyabhijñā-Hṛdayams aufgelistet und in Kṣemarājas Kommentar im Einzelnen beschrieben:

(1) ābhāsana - Erscheinenlassen

Alles, was durch den Prozess des Ausströmens der Sinnesgöttinnen erscheint, wird als erschaffen bezeichnet.

Die Sinnesgöttinnen repräsentieren die Fähigkeiten wie Sehen und andere Sinne, die nicht einfach als passive Empfänger von Informationen verstanden werden, sondern als lebendige Energien, die in zwei Richtungen fließen. Wenn diese Energien nach außen fließen, erweitern sie sich und ermöglichen es dem Bewusstsein, eine Welt zu erschaffen, die es erleben kann. Fließen sie nach innen, ziehen sie sich zusammen – sie bewegen sich zum Kern zurück. 

In der Sichtweise der Krama-Tradition kommt die Welt also nicht von außen durch die Sinne ins Gehirn, sondern das Bewusstsein fließt nach außen und erschafft alles, was man erlebt. D. h. die Erfahrung der Realität kommt nicht von außen, sondern fließt aus dem inneren Wesen heraus und wird zu allem, was man wahrnimmt. 

(2) rakti - Hingabe

Ein Objekt oder eine Erfahrungen bleibt erhalten, wenn man sich eine Zeit lang dem Objekt hingibt, ganz “darin aufgeht” oder wörtlich: wenn das Bewusstsein von dem Objekt gefärbt wird (rajyati). 

(3) vimarśana - Bewusstwerden

Im Moment des Bewusstwerdens, also wenn man sich selbst wieder bewusst wird, wird das Objekt/die Erfahrung aufgelöst oder gelangt in den Hintergrund. Ein synonymer wichtiger Begriff aus der Krama-Tradition dafür ist camatkāra, ein Zustand des puren Staunens oder spirituellen Erlebens. Es ist der Moment, in dem der Yogin seine Verzückung über das Erfahrene intensiv erlebt und verinnerlicht, bevor er es verbal oder gedanklich ausdrückt. Jede Wahrnehmung kann einen camatkāra-Moment haben, einen Moment der Erfahrung des reinen Wunders und der Schönheit des Seins.

(4) bījāvasthāpana - Setzen der Saat

Wenn eine Erfahrung eine Prägung (saṁskāra) hinterlässt, wird eine 'Saat' (bīja) gesetzt, die später aufgeht und an den Kreislauf der Wiedergeburt (saṁsāra) bindet.

Jedes Mal, wenn wir uns von einer unangenehmen oder überwältigenden Situation abwenden, statt sie vollständig zu erleben, erschafft das Bewusstsein eine Prägung. Diese Prägung bleibt wie eine Saat verborgen, bis sie durch ähnliche Umstände aktiviert wird und sich in Form von Abneigung, Anhaftung oder emotionaler Reaktion zeigt.

(5) vilāpana - Auflösen [der Saat]

Wenn etwas, das als Saat/Prägung (bīja/saṁskāra) oder etwas, das jetzt erlebt wird, durch den Prozess des “plötzlichen Verdauens” (haṭhapāka), auch bekannt als die Methode des “totalen Verschlingens” (alaṅgrāsa), mit dem Feuer des Bewusstseins (cidagni) eins wird, dann wird es restlos aufgelöst, weil es in den Zustand der vollständigen Fülle (pūrṇatā) integriert wird. 

Das Bewusstsein wird hier mit einem Feuer verglichen, da es ähnlich wie das Feuer den Treibstoff von Emotionen, Gedanken und Erfahrungen aufnimmt und in Energie umwandelt. Dieser Prozess wird als „plötzliches Verdauen“ (haṭhapāka) und „totales Verschlingen“ (alaṅgrāsa) bezeichnet – spezielle Begriffe aus der Krama-Tradition. Wenn die emotionale Energie einer Prägung aktiviert wird und wir diese Energie sanft halten, uns nicht mit ihr identifizieren und keine mentalen Konstruktionen dazu erfinden, erleben wir diese Energie als Ausdruck des göttlichen Bewusstseins. Dann wird sie restlos „verdaut“ und nicht wieder gespeichert. Sie verschmilzt mit dem größeren Ganzen und verstärkt unser Wesen subtil.

Die Methode, eine Prägung zu verdauen, ist die gleiche wie die für eine neue Erfahrung. Wenn eine Erfahrung des gegenwärtigen Moments vollständig „verdaut“ werden kann, hinterlässt sie keine Prägung. Das heißt, wenn man vollkommen präsent ist und das, was man fühlt, ohne Urteil oder mentale Geschichten annimmt, dann wird die Energie „verschlungen“. Wie bei physischer Nahrung wird überschüssige Energie durch einen hindurchgehen, während der Rest mit dem Feuer des Bewusstseins verschmilzt und das gesamte Wesen stärkt. Auf diese Weise erfahren wir unsere natürliche Fülle.

Verständnis der fünf göttlichen Handlungen führt zu Freude und Befreiung

Das Verstehen und das direkte Erfahren der fünf göttlichen Handlungen des Śaiva Tantras – sei es im Verständnis der klassischen oder der geheimen Krama-Tradition – zeigt uns, dass das Erleben der Freude des Bewusstseins (cidānanda) und die Befreiung zu Lebzeiten (jīvanmukti) tief in unseren alltäglichen Erfahrungen verwurzelt sind. Diese Lehren eröffnen uns die Möglichkeit, unsere eigene göttliche Natur zu erkennen und die wahre Fülle des Lebens zu erfahren.

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