Nr̥siṁha oder Narasiṁha, der „Mensch-Löwe“ ist der Mythologie zufolge der vierte Avatar des Gottes Viṣnu. Sein Mythos erzählt uns über Macht, Vergänglichkeit, Ideale und wie die Kraft der Natur immer wieder das Gleichgewicht herstellt.

Philosophie und Tradition

Eine alte Legende

Die asketische Praxis des machthungrigen König Hiraṇyakaśipu

Einst, so beginnt eine Legende aus der  Bhagavata Purāṇa, vertiefte sich der mächtige König Hiraṇyakaśipu in asketische Übungen (tapas). Nach langer Praxis erwarb er schließlich übernatürliche Kräfte (siddhi). Seine Meditation und Askese waren sogar so stark, dass der Schöpfergott Brahma ihm erschien, um ihm einen Wunsch zu erfüllen. Hiraṇyakaśipu wollte unsterblich werden. Also verhandelte er mit dem Schöpfergott und dieser gewährte ihm schließlich die Macht der Unsterblichkeit.

Weder auf der Erde, noch im Himmel, weder bei Tag, noch bei Nacht, weder in einem Haus, noch im Freien, weder durch einen Menschen, noch durch ein Tier, weder durch eine Waffe, noch durch eine Hand, weder durch eine Gottheit (deva), noch durch einen Dämonen (asura) konnte Hiraṇyakaśipu nun zu Tode kommen. Mit diesem erfüllten Wunsch wähnte sich Hiraṇyakaśipu unsterblich. Er begann eine Tyrannenherrschaft über die gesamte Erde aufzubauen. Sogar das gesamte Universum sollte seinem Befehl gehorchen. Nach und nach unterwarf er alle Lebewesen und auch die Gottheiten (devata) und Dämonen (asura) mussten sich seinem Willen beugen.

Prahlādas Vorbildfunktion ist stärker als jede Gewalt

Lediglich sein Sohn Prahlāda widersetzte sich seiner Herrschaft. Er verehrte den Gott  Viṣṇu und sammelte in dieser Verehrung gleichgesinnte Schüler um sich. Das verärgerte den Tyrannenherrscher so sehr, dass er Dämonendiener (asura) aussandte, um seinen eigenen Sohn töten zu lassen. Doch es war nicht so leicht wie gedacht, Prahlāda zu töten. Die Dämonendiener des Tyrannenhersschers versuchten ihn auf einen Dreizack aufzuspießen, von Elefanten zertrampeln zu lassen, von Klippen zu stoßen, zu steinigen, zu vergiften, auszuhungern und den Elementen auszusetzen. Doch da Prahlāda stets in tiefer Meditation an den von ihm verehrten Gott  Viṣṇu versunken war, hatte nichts Auswirkung auf ihn. 

Schließlich versuchte Hiraṇyakaśipu, den Geist seines Sohnes zu brechen, indem er ihn durch seine dämonischen Lehrer unterrichten ließ. Doch das Vertrauen und die Hingabe von Prahlāda beeindruckte selbst diese Lehrer. So wandten auch sie sich bald  Viṣṇu zu, anstatt Prahlāda von diesem abzubringen. 

Begegnung zwischen Hiraṇyakaśipu und Prahlāda

Letztlich wurde Hiraṇyakaśipu so zornig, dass er Prahlāda persönlich töten wollte. Er ließ den Sohn daher zu sich bringen und zog sein Schwert (Bild 1).

Die Bhagavata Purāṇa (7.8.6–7/12–13) schildert die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn wie folgt:

„Du Schurke, wenn ich zornig werde, erzittern alle Welten mitsamt ihren Führern. Durch welche Kraft bist du so dreist geworden, dich furchtlos meiner Herrschergewalt zu widersetzen?“ 

Prahlāda erwidert: „Mein lieber König, meine Kraft stammt aus der gleichen Quelle wie deine Kraft. Alle Kräfte kommen aus demselben Urgrund. Ohne ihn kann niemand Stärke erlangen. Sei es Brahma oder ein unbedeutendes Wesen, alle unterstehen der Kontrolle seiner Macht.“ 

„O du Unglückseliger“ sprach Hiraṇyakaśipu, „du hast immer von einem höchsten Wesen gesprochen, das alldurchdringend über alles herrscht. Wo ist er jetzt? Befindet er sich etwa in dieser Säule hier? Du sprichst viel Unsinn, daher werde ich dir jetzt den Kopf vom Körper trennen. Ich möchte nun sehen, wie dich dieser Hari (Viṣṇu) beschützt.“

Übersetzung: Anneliese und Peter Keilhauer: Die Bildsprache des Hinduismus. Die indische Götterwelt und ihre Symbolik. DuMont, Köln 1983, ISBN 3-7701-1347-0, S. 84ff.

In diesem Moment trat Viṣṇu in der Gestalt von Narasiṁha aus einer Säule des Palastes. Es entbrannte ein fürchterlicher Kampf zwischen Narasiṁha und Hiraṇyakaśipu (Bild 2). 

Erst in der Abenddämmerung zerrte Narasiṁha den König auf die Schwellen seines Palastes. Dort legte er den Tyrannenherrscher auf seinen Schoß und zerriss ihn mit seinen Klauen. Damit waren die Bedingungen für Hiraṇyakaśipus Tod erfüllt: Er wird weder auf der Erde noch im Himmel getötet, weder bei Tag, noch in der Nacht, weder in einem Haus, noch im Freien, weder durch einen Menschen, noch durch ein Tier, weder durch eine Waffe, noch durch eine Hand, weder durch eine Gottheit (deva), noch durch einen Dämonen (asura) (Bild 3). 

Anmerkung: Viṣṇu zählt als Teil der Trinität aus Brahma, Viṣṇu, Śiva nicht zu den Gottheiten (deva).

Tradition und Bedeutung

Vision gibt dem Leben Sinn

Wer seine Ideale verkauft, der verkauft sich selbst. Denn ohne Ideale erhalten weder Bemühen noch Handlung Sinn. Wer hingegen zu seinen Idealen steht, auch dann, wenn es unbequem ist, wird unbesiegbar. Auch wenn sich im Äußeren Nachteile dadurch zu ergeben scheinen, weiß man stets, wofür man lebt und handelt. In der mythologischen Erzählung steht Prahlāda zu seinen Idealen und lässt nicht von dem Glauben an Gott ab, obwohl sein eigener Vater versucht ihn umzubringen. Letztendlich zahlt sich sein fester Glauben an seine Ideale aus.

Wir sind Teil der Natur

Sind wir in der modernen Gesellschaft wie Hiraṇyakaśipu? Wir trennen uns mit immer mehr Technik uns von der Natur. Wir beuten Tiere aus. Wir verändern die Landschaft. Wir versuchen ewig jung zu bleiben. Doch je mehr wir uns von der Natur entfernen, in desto mehr Schwierigkeiten verstricken wir uns. Letztendlich holt uns die Natur immer wieder ein, denn die ewige Jugend, die wir anstreben, ist eine Illusion. Wir sind Teil der Natur. Alles um uns und wir selbst unterliegen diesem Wandel. Hingabe an diesen Wandel führt uns zu einer tiefen Zufriedenheit. Der Schlüssel zum wirklichen Glück liegt also nicht darin, im Außen neuen Dingen hinterher zu jagen, sondern mit dem zufrieden zu sein, was hier und jetzt ist.

In der indischen Tradition

Narasiṁha ist die vierte von zehn Verkörperungen (avatāra) des Gottes Viṣṇu. Wörtlich übersetzt bedeutet Nr̥siṁha bzw. oft auch Narasiṁha der „Mensch-Löwe“. In ganz Indien sind Darstellungen von Narasiṁha als halb Mensch und halb Löwe häufig. Dabei hat er den Körper eines Menschen mit dem Kopf und den Klauen eines Löwen (Bild 4).

Vor allem die Kriegerkaste verehrt Narasiṁha in Indien noch heute. Im Unterschied zu einem käuflichen Söldner lebt und pflegt ein Krieger Ideale. Der Krieger schützt, was ihm wertvoll ist. Er ist bereit ,dafür Gefahren einzugehen und selbst sein eigenes Leben zu riskieren. Der Beiname Narasiṁhas, „Großer Beschützer“, bezieht sich also nicht ausschließlich auf körperliche Fähigkeiten, sondern auch auf den Schutz ideeller Werte (Bild 5).

Als Leitfigur in tantrischen Texten

Es verwundert nicht, dass Narasiṁha oft in tantrischen Texten und Texten des Haṭha-Yoga als Leitfigur auftaucht. Besonders relevant erscheint uns:

  • Die Mokṣopaya aus dem 10. Jh.
  • Die Nr̥siṁhottaratāpinyupaniṣat, eine Yoga-Upniṣad um ihn, aus dem 17. Jh.

Und natürlich die kraftvolle Anrufung an Nr̥siṁha im Beginn Mantra des Dattātreyayogaśāstra

nrisinha-rupine chid-atmane sukha-sva-rupine |
नृसिंहरूपिणे चिदात्मने सुखस्वरूपिणे ।
nr̥siṁha-rūpiṇe cid-ātmane sukha-sva-rūpiṇe ।

padais tribhis tad adibhir nirupitaya vai namah ||1||
पदैस्त्रिभिस्तदादिभिर्निरूपिताय वै नमः ॥१॥
padais tribhis tad ādibhir nirūpitāya vai namaḥ ॥1॥

Dem, der die Form des Narasiṁha hat, dessen Selbst (ātman) das Bewusstsein (cit) ist, dessen wahre Gestalt (svarūpa) die Glückseligkeit (sukha) ist [und]
der durch die drei Worte beginnend mit “dieses” (tat)1 definiert wird. Verehrung (namas) sei ihm.

1:

Vermutlich eine Anspielung auf das mahāvākya der Chandogyopaniṣad 6.8.7: tat tvam asi “das bist du”. Es drückt dort die Identität zwischen ātman, dem Selbst, und brahman, dem Absoluten aus. In diesem Fall die Identität zwischen Narasiṁha und dem Absoluten (brahman).

Ein Vaiṣṇava Werk

Ein Vaiṣṇava Maṅgala-Vers eröffnet das Dattātreyayogaśāstra. Er bezieht sich mit Verehrung auf Nr̥siṁha, bzw. oft auch Narasiṁha genannt. Wörtlich übersetzt bedeutet das etwa: “Mensch-Löwe”. Narasiṁha gilt als vierter Avatar (Inkarnation) des Gottes Viṣṇus. Dieser wird durch die Andeutung “tad-ādibhiḥ” mit dem Absoluten (brahman) gleichgesetzt.

Der in der Andeutung anklingende Ausspruch “tat tvam asi”, stammt aus der Chandogya Upaniṣad (6.8.7). Wörtlich übersetzt heißt er “Das bist Du”. “Das” bezieht sich auf das Absolute (Brahman). Das Absolute, das der Ungrund aller Phänomene ist, und das eigene Selbst, in seinem reinen und ursprünglichen Zustand, sind also ganz oder teilweise identisch. Das Wissen (jñāna), dass dies so ist, führt zu mokṣa (Befreiung). Wir sehen demnach klare Orientierung zum VaiṣṇavaHinduismus und Vedānta.

1:

Vermutlich Anspielung auf mahāvākya Chandogya Upaniṣad 6.8.7 tat tvam asi “das bist du”, als Anspielung der Identität zwischen ātman, dem Selbst, und brahman, dem Absoluten.

Pramāṇikā-Metrum

Es handelt sich hier um ein Pramāṇikā-Metrum. Dieses besteht aus zwei Pādas. Jedes Pāda umfasst 16 Silben. Es folgt dem Muster:

_ | _ | _ | _ | _ | _ | _ | _ |
_ | _ | _ | _ | _ | _ | _ | _ |

Wobei:

  • betonten Silben (guru) = |;
  • Unbetonte Silben (laghu) = _

Mythologisch tief verwurzelte Legende

Die Geschichten über Narasiṁha finden wir in den Purāṇas und der Mahābhārata in insgesamt 17 leicht abweichenden Varianten. Das zeigt uns, wie tief sie in der Mythologie Indiens verankert ist. Falls Du einmal selbst vergleichen möchtest, haben wir hier aufgelistet, wo die Varianten aufzufinden sind. Die zuvor geschilderte Legende orientiert sich dabei an der Variante des Bhagavata Purāṇa (Canto 7) . 

  1. Nr̥śiṁhapurāṇa, eine eigens ihm gewidmete Purāṇa, aus dem 5. Jh.
  2. Valmiki Ramayana (7.24)
  3. Harivaṁśa (41 & 3.41-47)
  4. Viṣṇu Purāṇa (1.16-20)
  5. Bhagavata Purāṇa (Canto 7) – Die zuvor beschriebene Legende orientiert sich an dieser Schilderung.
  6. Agni Purāṇa (4.2-3)
  7. Brahmāṇḍa Purāṇa (2.5.3-29)
  8. Vayu Purāṇa (67.61-66)
  9. Brahma-Purāṇa (213.44-79)
  10. Viṣṇudharmottara Purāṇa (1.54)
  11. Kūrma Purāṇa (1.15.18-72)
  12. Matsya Purāṇa (161-163)
  13. Padma Purāṇa (Uttara-khaṇḍa 5.42)
  14. Śiva Purāṇa (2.5.43 & 3.10-12)
  15. Liṅga Purāṇa (1.95-96)
  16. Skanda Purāṇa 7 (2.18.60-130)
  17. Mahābhārata (3.272.56-60) 

Nachrichten und Bewertungen

Deine Bewertung:

  • sehr inspirierend :-) sehr inspirierend :-)

  • Eine schöne Geschichte, die mir sehr deutlich unser jetziges Zeitgeschehen spiegeln. Mir zeigen meine inneren Werte, Kraft und Balance klar und deutlich das Leben von Prahlàda als Vorbild. Ich freue [...] Eine schöne Geschichte, die mir sehr deutlich unser jetziges Zeitgeschehen spiegeln. Mir zeigen meine inneren Werte, Kraft und Balance klar und deutlich das Leben von Prahlàda als Vorbild. Ich freue mich auf die Fortsetzung....

    • Auch vom Metrum her ist das Mantra an Narasimha ein absolutes Highlight!!
      - Ich freue mich schon auf die "Mit Dattatreya auf der Yogamatte" Stunde morgen. Auch vom Metrum her ist das Mantra an Narasimha ein absolutes Highlight!!
      - Ich freue mich schon auf die "Mit Dattatreya auf der Yogamatte" Stunde morgen.

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    Petra Zahn

    am 08.09.2021

    Wunderbar! Ich freue mich auf mehr.... Wunderbar! Ich freue mich auf mehr....

  • Sensationelle Geschichte! Ich kann mich gut mit Prahlāda identifizieren: unbeirrbar in den Überzeugungen und stetig bemüht in der Übung. Ein wahres Vorbild, allen Widrigkeiten zum Trotz! Sensationelle Geschichte! Ich kann mich gut mit Prahlāda identifizieren: unbeirrbar in den Überzeugungen und stetig bemüht in der Übung. Ein wahres Vorbild, allen Widrigkeiten zum Trotz!

    • Hier startet das Dattatreya Yoga Shastra!!
      - Der Text über den wir vor einer Weile gemailt haben. Ich freue mich so. Hier startet das Dattatreya Yoga Shastra!!
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    • Ganz meine Freude, dass der Text nun Stück für Stück auf die Seite kommt und verfügbar ist. Ich werde mich damit beschäftigen! Ganz meine Freude, dass der Text nun Stück für Stück auf die Seite kommt und verfügbar ist. Ich werde mich damit beschäftigen!