Tradition und Innovation – das ewige Thema! Handelt es sich dabei um zwei grundsätzliche Gegensätze? Und werden sie deshalb zwangsläufig so gut wie immer zu Streit und Auseinandersetzungen führen? Oder ist eventuell ein friedliches Nebeneinander möglich? Ich denke, dass ja. Und das aus mehreren Gründen. Ich würde gerne meiner Gedanken zu diesem Thema teilen und zeigen, wie die beiden Aspekte aus meiner Sicht auf sinnvolle Weise miteinander verbunden werden können.
Tradition – die Basis unserer Praxis
Wenn wir die Frage „Tradition vs. Innovation“ – oder besser „Tradition und Innovation“ – angehen wollen, sollten wir uns zunächst mit der Tradition auseinandersetzen. Das führt uns, so banal das zunächst auch klingen mag, als allerstes zu der Frage: Welche Tradition genau? Wie definieren wir eine Yoga-Tradition? Handelt es sich dabei lediglich um eine Abfolge von Positionen, die wir in genau dieser Reihenfolge so weit wie möglich zurück verfolgen wollen? Und sollte der Wert einer Tradition ausschließlich daran bemessen werden, über wie viele Jahre hinweg genau diese Abfolge von Yoga-Positionen praktiziert worden ist?
Ich denke, dass eine Yoga-Tradition mehr ausmacht als nur eine Reihe von Positionen. Die meisten von uns werden damit angefangen haben, sich mit den Asanas zu beschäftigen, als sie zum Yoga gekommen sind. Von daher ist es nachvollziehbar, dass dies auch einer der Aspekte ist, die uns besonders interessieren, wenn wir beginnen, uns mit der Frage nach der hinter dem Yoga stehenden Tradition zu beschäftigen: Wir alle haben die Tendenz, unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was uns interessiert, und zu versuchen, Bestätigung für das zu finden, was wir bereits wissen oder glauben zu wissen. In meinen Augen ist dieses Phänomen gleichzeitig charakteristisch für die Art und Weise, wie wir in westlichen Gesellschaften an bestimmte Dinge herangehen. Im Einklang damit konzentrieren sich die westlichen Überlegungen zu Yoga häufig auf eine bestimmte Abfolge von Positionen und ihre genaue Datierung. Am authentischsten ist dabei für uns das, was am ältesten ist.
Im Gegensatz dazu existiert in Mysore und an vielen anderen Orten Indiens eine sehr starke Yoga-Tradition, die von der westlichen Herangehensweise ganz erheblich abweicht. Hier spielen Positionen eine viel, viel geringere Rolle als wir Westler das oftmals vermuten würden. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb handelt es sich um eine sehr lebendige und schöne Tradition.
In meinem heutigen Text möchte ich mich auf die Form des Yoga konzentrieren, wie er in Mysore entstanden ist. Man geht aktuell davon aus, dass weltweit die Hälfte aller Yoga-Stile, bei denen das Üben einer Serie von Positionen eine zentrale Rolle spielt, direkt von Sri Tirumalai Krishnamacharya und seinen Schülern beeinflusst worden ist. Sri Krishnamacharya ist für allem bekannt durch die 25 Jahre, die er in Mysore unterrichtet hat, also etwa von den 1930ern bis zu den 1950ern, und in denen er den größten Einfluss auf die Entwicklung des Yoga genommen hat. Welche Art von Tradition wird nun aber in Mysore gepflegt? Wenn wir unseren Blick erweitern und uns nicht nur auf die Positionen konzentrieren, erkennen wir schnell, dass es bei dieser sehr alten Tradition um viel mehr geht und beispielsweise die Yoga-Praktiken und die Yoga-Philosophie, die in Mysore seit langem kultiviert werden, eine zentrale Rolle spielen.
Die Mysore-Tradition: Mehr als nur Asanas
Die indischen Yoga-Traditionen haben sich nie ausschließlich auf Asanas (Positionen) bezogen. Stattdessen gibt es in Mysore bereits seit langem eine zutiefst spirituell geprägte Kultur, in der Aspekte wie Atemübungen, die Lotusposition, Konzentration, Meditation, Chanten, Hingabe, etc. eine große Bedeutung haben. Das Zelebrieren dieser Aspekte reicht mindestens 1000 Jahre, also bis in die Zeit Ramanujas, zurück. Als der König von Mysore Krishnamacharya nach Mysore holte, damit er dort unterrichtete, gab es bereits ein anerkanntes Sanskrit College mit einer riesigen Bibliothek, die über Schriften aus allen Bereichen der indischen Philosophie verfügte. An dieser Stelle sollte vielleicht noch erwähnt werden, dass es sich bei Yoga um eine von sechs großen Philosophien in Indien handelt und dass diese in Mysore seit jeher präsent war.
Krishnamacharya selbst lernte in Nepal – manche meinen auch in Tibet – das, was heute als Ashtanga Vinyasa Yoga bezeichnet wird. Er war gleichzeitig derjenige, der plötzlich anfing, einen Schwerpunkt auf Asanas und auf Hatha Yoga zu legen, was sich als sehr einflussreich erweisen sollte. Krishnamacharya war darüber hinaus ein großartiger Gelehrter. Es gelang ihm daher, seine Überzeugung was die Bedeutung der Asana-Praxis betraf in der intellektuellen Gemeinschaft von Mysore erfolgreich zu vertreten. Wir wissen mittlerweile, dass Krishnamacharya dabei einige neue Techniken und Ideen einbrachte. Gleichzeitig ist es aber dennoch so, dass es in Mysore schon immer Leute gegeben hatte, die Yoga in einem weiteren Sinne, d. h. als Philosophie, praktiziert haben, der Ansatz an sich hatte also bereits ein stabiles Fundament und eine lange Tradition.
Vor Krishnamacharyas Zeit war jegliche Praxis von Yoga-Positionen allerdings in der Regel etwas sehr Privates und fast schon Geheimnisvolles. Einige der alten indischen Gelehrten erzählen, dass sie einzelne Yoga-Positionen und den dazu gehörigen Count sowie Surya Namaskara von ihren Familien beigebracht bekommen hatten. Die wiederum ihrerseits die gleiche Art von Yoga schon über Generationen hinweg betrieben und weitergegeben hatten bevor sie zum ersten Mal überhaupt von Vinyasa oder Krishnamacharya hörten.
Yoga ist eine integrierte Kunst- und Kulturform. Niemand kann mit abschließender Sicherheit sagen, wie alt er tatsächlich ist und wo genau er herkommt. Aus meiner Sicht handelt es sich beim Ashtanga Vinyasa Yoga um ein in sich stimmiges und wohlkonstruiertes System, das aus einer sehr innovativen kulturellen Tradition heraus entstanden ist. Innovation ist also Teil der Tradition! Darüber hinaus ist der Mysore-Yoga durchdrungen von der indischen Philosophie und Kultur: Die Namen der einzelnen Positionen etwa erzählen Geschichten über Weise, Gottheiten, Tiere und kulturelle Ikonen, die in der Philosophie der Yoga-Community von Mysore eine zentrale Bedeutung haben. Ich denke, all das weist auf eine sehr reiche, wunderschöne und uralte Kultur hin!
Die Wurzeln des Yoga – eine mehr als 5000 Jahre alte Geschichte…
Stimmt es, dass Yoga vor 5000 Jahren „erfunden“ wurde? Ich denke, dass es mehr oder weniger stimmt. In meinen Augen kommt es ganz darauf an, wie wir den Yoga definieren. Danny Paradise hat immer gesagt, dass der Yoga eine Verbindung zu allen schamanischen und indigenen Traditionen hat und damit so alt ist wie die Menschheit selbst. Dem stimme ich zu. Es ist gut möglich, dass jede Zivilisation, deren Entwicklung über ein bestimmtes, primitives Stadium hinaus ging, irgendeine Art von Selbst-Kultivierung, Konzentration oder physische und mentale Praktiken hatte, die sich in irgendeiner Form zum Yoga in Bezug setzen lassen. Wenn wir dagegen über den Yoga in Indien sprechen, dann können wir sagen, dass er etwa 5000, nach den konservativsten Schätzungen zumindest 4,500, Jahre alt ist. Wenn es wiederum jedoch nur um die Positionen gehen soll, die heute üblicherweise praktiziert werden, dann finden wir die frühsten schriftlichen Erwähnungen in den „minor Upanishads“ und Tantras. Die Hatha Yoga Pradipika (ca 1,500 n. Chr.) geht bei der Beschreibung von einzelnen Positionen etwas mehr ins Detail, aber wenn es uns tatsächlich um die exakte Abfolge des Ashtanga Vinyasa Yoga geht, dann können wir sagen, dass diese von Sri Krishnamacharya und Sri K. Pattabhi Jois entwickelt wurden. Und somit – wenn überhaupt – 100 Jahre alt ist.
Sri K. Pattabhi Jois war zweifellos derjenige, der den Ashtanga Vinyasa Yoga in die westliche Welt gebracht hat. Obwohl er selbst nur bruchstückhaft Englisch sprach, gelang es ihm, bei seinen Schülern einen enorme Begeisterung zu erzeugen. In meinen Augen war er ein kreatives Genie: Er systematisierte die Asanas in einer Art und Weise, die absolut sinnvoll und gleichzeitig so gestaltet ist, dass sich viele Leute die Abfolge merken und sie selbständig praktizieren könen. Bis zum heutigen Tag hat die von Pattabhi kreierte Sequenz einen Einfluss auf viele Yoga-Stile auf der ganzen Welt. Darüber hinaus hat seine Form des Unterrichtens einige der besten westlichen Praktizierenden hervorgebracht und in vielen Leuten den sprichwörtlichen Funken entzündet. Sri K. Pattabhi Jois blieb dabei stets den Gepflogenheiten seiner Kultur treu und verwies immer auf seine eigenen Lehrer sowie auf die Tradition aus der er kam, anstatt diese Leistung für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Gleichermaßen verlor er nie ein Wort darüber, was er selbst zur Weiterentwicklung der Tradition beigetragen hat.
Aus meiner Sicht ist genau das der Punkt, der bei vielen zu Verwirrung führt. Pattabhi betonte immer wieder, dass es sich beim Yoga um eine uralte Tradition handele, er eine bewährte Methode lehre und sich seine Schüler daran halten sollten. Was ist verkehrt daran? Eine solche Einstellung drückt ein hohes Maß an Demut und Leidenschaft für die Sache aus. Ich finde sie außerdem extrem sympathisch, gerade in einer Zeit, in der es in der Yoga-Szene oft nur noch darum zu gehen scheint, irgendeine neue Idee zu haben und diese unter dem eigenen Namen zu vermarkten. Sobald diese Idee gefunden ist, wird angefangen, sie markenrechtlich zu schützen und so gewinnbringend wie möglich unter die Leute zu bringen. Das führt dazu, dass wir mittlerweile Yoga in jeder erdenklichen Spielart haben. Gleichzeitig ergehen wir uns mitunter in kleinlichen Diskussionen und Streitereien über die Abfolgen von Asanas, die im Vergleich zur uralten Tradition des Yoga noch sehr, sehr neu sind. Dabei verlieren wir den tiefgründigen und wunderbaren Hintergrund, aus dem das alles überhaupt entstehen konnte, leicht aus dem Blick.
„Never changed anything”: Warum besteht jeder Lehrer darauf, exakt diese Sequenz von seinem Lehrer (und dieser von seinem Lehrer und dieser von seinem und so weiter…) bekommen und nie verändert zu haben?
Streng genommen trifft das nicht auf alle Lehrer zu. Mein Lehrer Sri BNS Iyengar etwa, der gerade seinen 90. Geburtstag gefeiert hat, unterrichtet eine leicht veränderte Form des Ashtanga Vinyasa Yoga, was die Abfolge der Positionen betrifft. Er kann wenn er mit fortgeschrittenen Schülern arbeitet sehr innovativ sein. In der Tat ist es ohnehin so, dass kein Lehrer den Yoga wirklich bis ins allerkleinste Detail auf die gleiche Art und Weise unterrichtet. Selbst wenn wir uns alle Mühe geben würden, das zu tun, wäre es schlichtweg unmöglich. Aus meiner Sicht gibt es einen guten Grund für vordefinierte Sequenzen. Sie liefern uns ein Grundgerüst, an das wir uns alle halten können, und das hat meiner Meinung nach einen sehr positiven Effetk auf den Yoga gehabt. Die einzelnen Abfolgen sind dabei wie die Tonleitern oder Fingerübungen, mit denen sich ein klassisch ausgebildeter Musiker tagtäglich beschäftigt. Bei den Asana-Abfolgen ist es ähnlich: Jeder, der bei Sri K. Pattabhi Jois oder Sri BNS Iyengar gelernt hat, verfügt über eine gewisse Grazie und Kompetenz. Diese entsteht nur durch die permanente Wiederholung der immer gleichen Bewegungsabfolgen und ist auf den ersten Blick erkennbar. Wenn die Sequenzen fest vorgegeben sind, üben wir viel konzentrierter und die Qualität unserer Praxis steigt exponentiell. Meiner Meinung nach hat Sri K. Pattabhi Jois diesbezüglich einen größeren Beitrag geleistet als jeder andere.
Welchen Schluss ziehe ich darauf für mich selbst? Die Asanas, die wir praktizieren, stammen aus einer sehr langen Tradition. Und die dazugehörige Yoga-Gemeinschaft ist ebenfalls sehr alt. Das Einzige, was neu dazu gekommen ist, ist die „Formatierung“. Diese ist nicht ganz so alt, wie wir das manchmal vielleicht gerne hätten. Letztendlich hat es den Yoga aber mehr oder weniger seit Menschengedenken gegeben, manchmal vielleicht in anderen Formen und Ausprägungen, aber die Grundidee an sich war immer da.
Der „indische“ gegenüber dem „westlichen“ Ansatz: Traditionsverbundenheit vs. Innovationsgläubigkeit?
Aus meiner Sicht gibt es zwischen den beiden Sphären in der Tat große Unterschiede. Ein Punkt ist etwa, dass wir im Westen sehr schnell anfangen, uns zu langweilen. Hier hat jeder Lehrer das gleiche Problem: Wie gelingt es uns, dass die Leute unsere Kurse trotzdem mögen, weiter mit uns arbeiten wollen und so ein echtes Interesse am Yoga entwickeln? Ganz ehrlich? Da gibt es nicht den einen richtigen oder falschen Weg. Wir alle sehen die Dinge ein Stück weit aus unserer ganz persönlichen Perspektive und lesen oft unsere eigenen Vorstellungen in den Yoga hinein – so wie wir das auch bei anderen Dingen tun. Das ist für mich der Hauptunterschied zur „indischen“ Herangehensweise. Ein Ansatz, der der Tradition stärker verhaftet ist, würde dieses „warum mache ich dies so und das so” öfter schlichtweg in den Hintergrund stellen und einfach nur praktizieren ohne ständig zu hinterfragen. Denn die tiefere Bedeutung hinter der Praxis sehen wir erst dann, wenn der Geist ruhig und klar wird. Oder, in den Worten von David Williams: “Before practice the theory is useless, and after practice the theory is obvious.” – Vor der Praxis ist die Theorie nutzlos und nach der Praxis ist sie ohnehin offensichtlich.
„Oh je – meine Form der Praxis ist nicht ansatzweise so alt und traditionsverbunden wie ich immer gedacht hatte. Was tue ich jetzt?“
Die einfachste Lösung? Einmal tief durchatmen und drüber hinwegkommen. Es gibt im Westen die Tendenz, dass wir Lehrer uns und unserer Methode mehr Gewicht verleihen wollen, indem wir darauf verweisen, wie alt die Tradition ist, die wir vermitteln. Wir alle mögen es, in einer uralten Tradition und Folge von Lehrern bzw. Praktizierenden zu stehen. Historisch gesehen hat der Guru Parampara jedoch nie darauf beruht, nur eine bestimmte Abfolge von Positionen durchzuführen. Der philosophische Kontext hinter unseren Praktiken ist uralt, aber die aktuellen Asana-Praktiken und der Rahmen, in dem sie ausgeübt werden, sind zweifelsohne modern.
Wir müssen also lediglich die Teile des Yoga identifizieren, die alt sind und eine lange Tradition haben. Darunter fällt beispielsweise die Vorstellung, dass man durch Meditation mentale und emotionale Stabilität erzielen kann. Asanas dienen dabei als vorbereitender Schritt für die Meditation. Auch die Idee, die Sonne durch eine Abfolge von Bewegungen zu verehren, ist sehr alt und geht bis auf die Veden zurück. Mit anderen Worten, der Bezug zur Tradition ist ganz eindeutig da, es ist nur ein Fehler zu sagen, dass genau die Abfolge von Asanas, die wir momentan üben, Teil dieser uralten Tradition ist. Macht das einen Unterschied und sind wir deshalb der Tradition weniger verhaftet? Aus meiner Sicht keineswegs!
Yoga hat sich über tausende von Jahren hinweg entwickelt und wird sich auch in Zukunft weiter entwickeln. Was dagegen unverändert geblieben ist, ist die Tatsache, dass es sich beim Yoga um ein großartiges Experiment bezüglich des menschlichen Bewusstseins und unserer individuellen Freiheit handelt. Yoga ist eine Wissenschaft, die darauf ausgerichtet ist, uns zu helfen unser höchste Potenzial zu erreichen. Die Methoden dafür haben sich über die Zeit hinweg immer wieder verändert und an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst, aber die grundlegenden Ideen sind immer ein Stück weit die gleichen geblieben, zumindest was ihren Kern betrifft. Gymnastik-Trends sind ein modernes Phänomen, aber der Yoga ist uralt. Und selbst wenn man Yoga zu einer gymnastischen Übung umfunktioniert, behält er immer noch etwas von seinen Wurzeln und führt zu einem Geisteszustand, der ruhig und klar ist. Dieser wiederum führt zur Meditation und den eher nach innen gerichteten Aspekten des Yoga – zumindest bei denjenigen, die sich darauf einlassen möchten.
Der Umgang mit der Tradition in der Asthanga-Szene
Über die Zeit hinweg haben sich eine ganze Reihe von „Schulen“ innerhalb des Ashtanga Yoga entwickelt, in der Regel in Verbindung mit einer zentralen Lehrerfigur, die diese Richtung maßgeblich prägte. Gibt es einen Unterschied im Hinblick darauf, wie sich diese einzelnen „Schulen“ den Fakten, die ich beschrieben habe, nähern und mit ihnen umgehen? Ich sehe ehrlich gesagt keinen wirklichen Unterschied. Wir können uns alle an Fantasien festhalten wenn wir das möchten, aber die Tatsachen sind recht eindeutig, zumindest was den bereits mehrfach angesprochenen Punkt der Abfolge einzelner Asanas angeht.
Viel spannender ist es aus meiner Sicht, einen näheren Blick auf den philosophischen Hintergrund sowie das „Asana-Erbe“ von Sri Krishnamacharya zu werfen. Was die Philosophie betrifft, war Sri Krishnamacharya ein Iyengar und somit genau wie die Iyengars ein Vaishnava. Die Vaishnavas stehen in der Tradition des Bhakti und folgen den Lehren von Ramauja und des Vishishta Advaita. Yoga hat in dieser Tradition seit jeher eine Rolle gespielt. In der heutigen Zeit stellt sich für uns als Lehrer die Frage, ob wir uns ausschließlich auf das Unterrichten der Asanas konzentrieren wollen oder ob wir neben den Positionen auch die Yoga-Philosophie weitergeben möchten.
So gut wie alle Philosophen, die in der Mysore-Tradition stehen, beziehen sich neben einigen anderen Texten besonders häufig auf die Bhagavad Gita und Patanjali’s Sutras. Natürlich hat hier jeder ein Stück weit seine eigenen Meinungen und Ansichten, aber der Unterricht dieser beiden Schriften ist in ganz Indien vergleichsweise einheitlich. Es ist wichtig zu verstehen, dass philosophische Auseinandersetzungen einen großen Teil der indischen Tradition ausmachen und dass Diskussionen über philosophische Fragestellungen über tausende von Jahren hinweg stattgefunden haben. Interessanterweise lässt sich dabei trotz dieses enorm langen Zeitraums nichtsdestotrotz eine gewisse Konstante beobachten, was die Bezugstexte und grundlegenden Konzepte betrifft.
Wie weit darf Innovation gehen? Und wer entscheidet, was eine “zulässige” Innovation ist und was nicht?
Die klassischen, über die Jahre hinweg erprobten Methoden des Yoga sind sicher und effektiv, wenn sie korrekt unterrichtet werden. Dagegen ist nicht jede verrückte neue Idee, die vielleicht gerade Spaß macht, es unbedingt wert, weiter verfolgt zu werden. Aus meiner Sicht entwickelt sich der Yoga im Westen was das Physische angeht mit rapider Geschwindigkeit und die Standards gewinnen zunehmend an Qualität. Der „Positionen-Yoga“ hat sich sowohl in Indien als auch im Westen zu einer Gesundheitswissenschaft weiter entwickelt und wird heute erfolgreich dazu eingesetzt, diverse physische Probleme zu behandeln. In dieser Hinsicht wird er vielen Leuten zugänglich gemacht bzw. steht bereits vielen Menschen offen. Das ist eine ganz wundervolle Entwicklung! Allerdings ist es aus meiner Sicht weiterhin so, dass die Ashtanga Vinyasa Praxis-Methode einen wirklich herausragenden Stellenwert einnimmt und vorzüglich geeignet ist, wenn es darum geht, über die Zeit hinweg eine nachhaltige, intensive Praxis zu etablieren oder seine eigene, ganz persönliche Praxis zu erarbeiten.
Aber zurück zur eigentlichen Frage: Wer entscheidet ob eine Veränderung oder Innovation zulässig ist? Du selbst natürlich! Bzw. wir alle! Hier bei aller Offenheit allerdings trotzdem eine kleine Einschränkung: Langeweile ist kein guter Grund dafür, Dinge zu verändern, die auf sorgfältige Weise erarbeitet und zusammengestellt worden sind. Wir alle sollten für uns selbst überlegen und entscheiden, was wir in unserer persönlichen Praxis tun. Intention ist dabei das ausschlaggebende Kriterium. Wenn wir zu einem Lehrer gehen, dann sind wir verpflichtet, seinem Unterricht zu folgen. Wenn wir dagegen allein üben, können wir tun, was wir wollen. Das Ergebnis gibt uns dabei einen klaren Hinweis auf unsere Intention und darauf, ob unser Ansatz erfolgreich ist. Ich persönlich habe das Gefühl, dass die ernsthafteren Praktizierenden von festgelegten Sequenzen angezogen werden, die uns in einen meditativen Zustand versetzen. Der Yoga bekommt dann durch die beständige Wiederholung etwas Hingebungsvolles und Heiliges.
Im Ashtanga Vinyasa Yoga ist der Ansatz ganz klar definiert. Natürlich können wir ihn verändern. Allerdings ist es dabei wichtig, dass wir uns über die Gründe für die jeweiligen Veränderungen bewusst werden. Geht es beispielsweise darum, einen Weg zu finden, um mit bestimmten physischen Einschränkungen zurecht zu kommen? Das heißt, suchen wir eine Möglichkeit, die Dinge auf ein Level herunter zu brechen, das für uns aktuell möglich ist und es uns beispielsweise erlaubt, bestimmte Verletzungen erst ausheilen zu lassen oder zu verhindern, dass wir uns (erneut) verletzen, weil wir einzelne Bereiche zu früh zu sehr strapazieren? Oder geht es uns darum, besser auszusehen, eine stylishere Praxis zu haben und bei den Leuten, die uns vielleicht zusehen, einen coolen Eindruck zu hinterlassen? Genau hier kommt die Absicht ins Spiel. Wenn eine Position für uns zu schwierig ist, verlassen wir uns auf das Wissen und die Techniken unserer Lehrer, um dieses Problem zu lösen und uns Wege aufzuzeigen, wie wir ihr uns langsam nähern können. Ohne eine gewisse Hingabe und ein längerfristiges Interesse kann keine wirkliche Yoga-Praxis entstehen. Gleichzeitig sollten wir aber auch unseren gesunden Menschenverstand nicht vergessen. Wenn wir so stark an eine Methode glauben, dass wir sie über Jahre hinweg Tag für Tag ausüben, dann ist vermutlich etwas dran. Wenn wir dagegen anfangen, uns nur noch mit unserer äußeren Erscheinung auseinanderzusetzen oder darauf, wie wir auf andere wirken und ob sie uns gut finden, dann schweifen wir ab und verlieren uns in Eitelkeit und Instabilität.
Ich selbst würde sagen, dass Vinyasa Flow weltweit die beliebteste Form des Yoga ist. Es ist schwieriger, Yoga zu unterrichten, wenn es keine zugrundeliegende Struktur gibt, der man folgen kann. In den Händen eines kompetenten Lehrers, der über ein tiefgreifendes Verständnis der menschlichen Physiologie sowie die Erfahrung verfügt, wie man Dinge auf intelligente und leicht zugängliche Weise kombiniert, kann der Vinyasa Flow etwas absolut brillantes sein. Wenn ich selbst in einem Raum voller Praktizierender bin, sehe ich auf den ersten Blick, wer Positionen übt, an denen sorgfältig gearbeitet wurde und die über Zeit hinweg immer mehr verfeinert wurden, bis sie schließlich in unser Nervensystem übergegangen sind. Genau das ist das Kennzeichen der Ashtanga Vinyasa Technik. Ein derartiges Maß an Perfektion kann schlichtweg nicht erreicht werden, wenn man nur mit Positionen herum spielt, selbst dann nicht, wenn jemand über sehr ausgeprägte athletische Fähigkeiten verfügt.
Veränderungen jenseits der Positions-Abfolge – Warum zum Beispiel nicht auch einmal mit Musik praktizieren?
Auch hier gibt es letzten Endes kein wirkliches richtig oder falsch. Musik hat seit jeher eine sehr enge Verbindung zum Yoga. Krishnamacharya entstammt der Traditionslinie von Nathamuni, der ein Nada Yogi war. Nada ist der Yoga des Klangs. Ich selbst habe schon Stunden erlebt, bei denen mich die Musik tief bewegt hat und in denen ich die Musik der Konzentration und dem Fluss der Asanas als absolut zuträglich empfand. Mir persönlich gefällt es allerdings am besten, wenn es immer wieder Momente der Stille gibt, die letzten Endes der Musik noch eine viel stärkere Wirkung verleihen, wenn sie dann erklingt. Was mich dagegen zu sehr ablenkt, ist Popmusik. Diese Art von Musik höre ich zwar mitunter auch gerne, allerdings nicht während meiner Praxis. Ich mag es, meinen Atem zu hören. Dennoch: es ist nichts verkehrt daran, Musik laufen zu lassen. Einmal mehr: es kommt dabei immer auf die Intention an. Wenn ich selbst für mich allein übe, dann bevorzuge ich die Stille.
Um allerdings doch noch einmal auf die Frage nach einer zulässigen gegenüber einer „verbotenen“ Veränderung zurück zu kommen, möchte ich noch eine weitere Einschränkung machen. Diese bezieht sich darauf, ob es zwei Arten von Innovation gibt. Also Veränderungen, die eine Tradition lebendig halten, gegenüber solchen, die die Tradition so stark verändern, dass sie am Schluss fast nicht mehr erkennbar ist. Denn hier würde ich sagen: ja, ganz eindeutig, diesen Unterschied gibt es. Lehrer, die viel gelesen haben und über ein tieferes Verständnis der Yoga-Philosophie verfügen, tendieren in der Regel dazu, bei ihrem Ansatz die Konzentration in den Vordergrund zu stellen. Aus meiner Sicht kann es hier durchaus eine Balance bzw. einen gewissen Kompromiss geben. Wenn wir zum Beispiel erst einmal Spaß haben, ein bisschen spielen und sexy Popmusik hören wollen, dann kann das ganz okay sein, um überhaupt einmal einen ersten Zugang zum Yoga zu finden und uns mit dem Gefühl vertraut zu machen, das der Yoga in unserem Körper auslösen kann. Wenn wir dagegen unseren Geist zur Ruhe bringen und unseren eigenen Atem spüren wollen, dann ist es besser, sich auf eine vorgegebene Abfolge zu konzentrieren. Und hier habe ich bislang noch keine bessere Struktur kennen gelernt als die des Ashtanga Vinyasa Yoga. Andernfalls hätte ich sofort angefangen, stattdessen diese zu üben!
Meine persönliche Praxis: Ein Experiment im freien Raum oder doch etwas, das einer tieferen Tradition verhaftet ist?
Unser Raum ist genau so frei, wie wir es ihm erlauben es zu sein. Ich würde sagen, dass jeder der irgendeine Art von Yoga praktiziert und das aus Gründen tut, die mit dem Geist, den Emotionen, der Konzentrationsfähigkeit, etc. zu tun haben, den Yoga authentisch praktiziert, zumindest zu einem gewissen Maße. Dabei kann körperliche Fitness und Gesundheit durchaus eine Rolle spielen, aber wenn es sich dabei um das ausschließlich Ziel handelt, dann ist es lediglich ein Workout.
Sollten wir Innovationen einbringen? Letztendlich sind wir alle dazu gezwungen, innerhalb der Sequenzen mit gewissen Innovationen zu arbeiten, ganz allein schon aufgrund der Tatsache, dass die Positionen schwierig sind und wir sie nicht alle sofort ausführen können. Dabei ist es durchaus so, dass gewisse Veränderungen für den einen funktionieren, für den anderen dagegen nicht. Hier kommt die Kunst des Unterrichtens ins Spiel. Dennoch sind die vorgegebenen, festen Abfolgen aus meiner Sicht etwas sehr positives, weil sie uns einen gemeinsamen Rahmen vorgegeben sowie eine Basis, auf der wir etwas aufbauen können.
Problematisch wird es erst dann, wenn wir anfangen, uns sklavisch an den Sequenzen festhalten und beginnen, sie fast schon als etwas heiliges zu behandeln, das keinesfalls in irgendeiner Weise verändert werden darf. Ich sehe die Asana-Abfolgen als uralte Rezepte für den Weg zur Erleuchtung. Nicht mehr und nicht weniger. Zu glauben, dass es die Tradition missachtet, wenn man auch nur die kleinste Veränderung vornimmt, ist einfach nur dumm. Denn die Sequenzen selbst gehen so wie wir sie heute praktizieren nicht weiter zurück als bis zu Sri K. Pattabhi Jois, zumindest ist das das aktuelle Ergebnis all meiner Nachforschungen. In Mysore wurde mir erzählt, dass die vier ursprünglichen Serien, die Sri K. Pattabhi Jois gelehrt hat, dem Curriculum des vierjährigenYoga-Kurses entstammten, den eher am Sanskrit College des Maharadschas unterrichtete. Diese Serien entstammen einer Tradition der Innovation sowie einem weiteren Kontext von körperlicher Asana-Praxis. Vinyasa Krama ist dabei das Schlagwort. Die Ashtanga Sequenzen sind sehr dynamisch und das Ergebnis einer ganzen Ära der intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen der Asana-Praxis. Vielleicht ist genau das der Grund, warum Sri K. Pattabhi Jois sein Institut ursprünglich das Yoga Research Institute – also das Yoga Forschungs-Institut - nannte!
Eine eigene Praxis entwickeln
Letztendlich kann jeder das tun, was er will. Und die Leute werden das auch immer tun! Aus meiner Sicht ist der beste Ratschlag, den man geben kann, sich einen Lehrer zu suchen, den man mag und zu dem man eine gewisse Verbindung aufbauen kann. Höre gleichzeitig auf Deinen eigenen Körper und tue nichts, das ihn verletzt, ganz egal was irgendjemand sagt. Sei offen und probiere im Rahmen dessen, was Dir nicht weh tut, alles aus! Schau dann einfach, was sich für Dich stimmig anfühlt und gute Ergebnisse erzielt. Hinterfrage dabei nicht Deine innere Weisheit und Intuition. Entwickle Deine ganz persönliche Praxis. Disziplin, Leidenschaft und eine auf Dich zugeschnittene Form des Übens – genau das sind die Requisiten, die Du brauchst, wenn Du Dich wirklich tiefergehend mit dem Yoga auseinander setzen möchtest. Für einen gewissen Zeitraum können wir noch hin und her springen und mal dies, mal das ausprobieren, aber wenn wir echte Ergebnisse sehen wollen, müssen wir uns an einem bestimmten Punkt auf einen Weg festlegen.
Damit auch noch einmal zurück zur Eingangsfrage von Tradition und Innovation. Letzten Endes können wir aus meiner Sicht die Tradition bewahren und gleichzeitig innerhalb der Tradition innovativ sein – so wie es Yoga-Lehrer schon immer getan haben. Wir brauchen beides, Tradition und Innovation. Von daher ist es auch sinnlos, sich über Kleinigkeiten zu streiten, wenn es um geringfügige Unterschiede in der Asana-Technik geht oder anderen deshalb Vorwürfe zu machen. Wir sollten immer im Blick behalten, dass es beim Yoga auch immer darum geht zu versuchen, ein guter Mensch zu sein! Ganz egal welchen Yoga-Ansatz wir letzten Endes wählen: Nur die Zeit wird zeigen, ob er erfolgreich ist oder nicht. Um erfolgreich zu sein, brauchen wir einerseits ein solides Fundament und ein gewisses Durchhaltevermögen, andererseits aber auch eine intelligente und technisch ausgefeilte Art der Umsetzung. Die Leute, die letztlich beim Yoga bleiben, sind immer diejenigen, die eine gewisse Liebe dazu entwickelt haben. Umgekehrt ist es aber auch schwierig, sich in etwas zu verlieben, das ständig zu Verletzungen führt…. Innovation ist daher in einem gewissen Rahmen unvermeidlich.
Viele der Ansichten und Meinungen, die ich in diesem Artikel vorgestellt habe – insbesondere was die Yoga-Tradition von Mysore betrifft – sind das Ergebnis vieler direkter Gespräche mit Gelehrten, erfahrenen Praktizierenden, Yogis und spirituellen Größen in Mysore. Diese sind auch in „Mysore Yoga Traditions“ eingeflossen, ein Dokumentarfilm-Projekt, das aktuelle Einstellungen in der intellektuellen, Sanskrit- und Yoga-Szene von Mysore beleuchtet. Meine Kollegen und ich arbeiten derzeit fieberhaft daran, das Projekt zu einem Abschluss zu bringen und den Film hoffentlich im Frühjahr 2017 präsentieren zu können. Seid gespannt!