Einleitung
Im saṁskr̥ta sind Komposita - also zusammengesetzte Wörter - ein charakteristisches Merkmal und sie spielen eine große Rolle in der Sanskrit-Literatur. Im Deutschen finden wir ebenfalls viele und teilweise lange Komposita, wie z.B. "Fußballweltmeisterschaft" oder “Yogatraditionsmerkmale”. Komposita werden sowohl im Sanskrit als auch im Deutschen zusammengeschrieben und erscheinen wie ein einzelnes Wort.
Dennoch bestehen Unterschiede. Im Deutschen ist ein Kompositum eine Wortbildung, also ein aus mehreren Wörtern zusammengesetztes Wort, das wie ein normales Wort verwendet wird. Im saṁskr̥ta hingegen ist es grammatisch gesehen keine einzelne Einheit, sondern eine Struktur aus mehreren Wörtern, die zusammen eine Bedeutung haben. Komposita stellen also einen ganzen Satz oder Teilsatz dar und dabei gibt es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, wie wir später sehen werden.
Im Deutschen können manchmal Unterschiede in der Bedeutung des Kompositums im Vergleich zu den einzelnen Wörtern auftreten. Zum Beispiel hat das Wort “Großstadt” eine etwas andere Bedeutung als “eine große Stadt”. Solche Unterschiede sind im saṁskr̥ta nicht vorhanden. Zudem sind die Möglichkeiten bei der Bildung von Komposita im Deutschen eingeschränkt. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Es existiert das Wort “Großstadt”, aber “Hübschstadt” ist nicht gebräuchlich. Solche Einschränkungen sind im saṁskr̥ta kaum zu finden.
In beiden Sprachen haben sich Komposita mit idiomatischer Bedeutung, also mit besonderer Bedeutung, in bestimmten Redewendungen oder im Sprachgebrauch entwickelt. Beispiele sind “Augenblick”, “Junggeselle” oder “Flugzeug”. Diese gibt es im saṁskr̥ta auch aber weitaus seltener als im Deutschen.
Beispielsätze, in denen Komposita vorkommen:
Beispiel 1
atha yogānuśāsanam I Yoga Sutra 1.1
Jetzt [folgt] die Unterweisung des Yogas.
yogānuśāsanam ist ein Kompositum bestehend aus yoga und anuśāsanam. yoga wird mit dem Genitiv “des Yogas” übersetzt. anuśāsanam steht im Nominativ - die Unterweisung.
Beispiel 2
udyāne sundara-kusumāni paśyāmi I
Im Garten (udyāne) sehe ich (pasśyāmi) schöne Blumen (sundara-kusumāni).
sundara-kusumāni ist ein Kompositum bestehend aus dem Adjektiv sundara (schön) und dem Nomen kusumāni (Blumen). Wörtlich übersetzt wären es “Schönblumen”.
Beispiel 3
cāru-vadanā strī I
Die Frau (strī) hat einen lieblichen Mund (cāru-vadanā).
cāru-vadanā ist ein Kompositum bestehend aus dem Adjektiv cāru (lieblich) und dem Nomen vadana (Mund). Wörtlich übersetzt wäre es “lieblichmundig”.
Wie ist ein Kompositum aufgebaut?
Grundsätzlich bestehen Komposita im saṁskr̥ta aus zwei Wörtern bzw. Gliedern, wobei sowohl das vordere als auch das hintere Glied wieder aus Komposita bestehen können. Wir beschränken uns hier auf zweigliedrige Komposita. Dabei ist es in den meisten Fällen so, dass das vordere Wort das Hintere näher beschreibt.
Die einzelnen Wörter im Kompositum können Nomen, Pronomen, Adjektive, Partizipien und Adverbien sein. Das vordere Wort erscheint in der Stammform, also ohne eine angepasste Endung. Es ist nicht dekliniert. Man kann also z.B. nicht erkennen, in welchem Fall das Wort steht. Dadurch ist die Beziehung zum anderen Wort im Kompositum nicht ausdrücklich angegeben, so dass sich die erwähnten Interpretationsmöglichkeiten ergeben und die Bedeutung aus dem Zusammenhang abgeleitet werden muss.
Das hintere Wort wird entsprechend seiner Funktion im Satz (z.B. Objekt oder Subjekt) oder an das Wort, auf das es sich bezieht, angepasst. Die Sandhi-Regeln werden in Komposita angewendet.
Welche Typen von Komposita gibt es im saṁskr̥ta?
Die fünf wichtigsten Typen von Komposita sind:
- tatpuruṣa: Vorderes Wort steht in einer Kasus-Beziehung zum hinteren Wort.
- karmadhāraya: Beide Wörter stehen im gleichen Kasus.
- dvandva: “und”- Verbindung von Wörtern
- bahuvrīhi: tatpuruṣa oder karmadhāraya, ein anderes Element (z.B. Objekt, Tier, Person), das nicht Teil des Kompositums ist, beschreibt.
- avyayībhāva: Das vordere Wort ist ein nicht deklinierbares Wort und das hintere Wort ist ein Nomen.
Es folgen Beschreibungen der einzelnen Typen mit Angabe von einigen Beispielen. Es gibt eine Reihe von Sonderformen, auf die wir hier nicht näher eingehen.
tatpuruṣa Kompositum
Beispiel:
daṇḍāsanam: “die Haltung des Stabes”
Vorderes Wort:
daṇḍa, Maskulinum (m), Stammform Stab, Stock
Hinteres Wort:
āsanam, Nominativ (nom), Singular (sg), Neutrum (n) von āsana die Haltung, der Sitz
Anmerkung: Da wir bei Ansagen in der Yogapraxis keine Sätze mit den Namen der Haltungen bilden, werden die Stammformen (also ohne das “m” am Ende) verwendet.
Die Sandhi-Regel findet Anwendung. Das kurze “a” am Ende von daṇḍa wird mit dem langen “ā” am Anfang von āsanam zusammengezogen.
Das hintere Wort wird durch das vordere Wort näher bestimmt. Es ist eine Haltung. Was für eine Haltung? Die Haltung des Stabes.
Das vordere Wort steht in einer nicht ausgedrückten Kasus-Beziehung zum Hinteren. Haltung des Stabes = Genitiv. Deshalb wird dieses Kompositum als Genitiv-tatpuruṣa bezeichnet.
daṇḍāsanam hat die Endung -am und ist ein Nomen im Neutrum, deshalb könnte es Nominativ oder Akkusativ sein, da die Endung der beiden Fälle im Neutrum gleich lauten. So könnte es die Funktion des Subjekts oder des Objekts in einem Satz übernehmen.
Generell gilt:
Das vordere Wort ist beim tatpuruṣa immer ein Nomen oder Pronomen, das hintere Wort kann ein Adjektiv oder ein Partizip sein. Es sind fast alle Fälle denkbar. Daraus ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten. Hier einige Beispiele:
- Akkusativ: svarga-gataḥ - in den Himmel gegangen
- Instrumental: agni-vināśaḥ - Zerstörung durch Feuer
- Dativ: snāna-jalam - Wasser für das Bad
- Ablativ: duḥkha-muktaḥ - vom Schmerz befreit
- Genitiv: rāma-pustakam - Ramas Buch
- Lokativ: yuddha-kuśalaḥ - geschickt im Kampf
Am häufigsten treten die Genitiv-tatpuruṣas auf. Und wie man schon an den Beispielen sieht, kann ein tatpuruṣa ein Nomen sein, aber auch die Funktion eines Attributs, also eine nähere Beschreibung von etwas, übernehmen (wie bei “duḥkha-muktaḥ”).
tatpuruṣa Sonderform: upapada
Das hintere Wort kann auch eine Verbalwurzel sein, die als Adjektiv oder als Handelnder übersetzt werden kann. Hier einige Beispiele:
- veda-vid - die Veden kennend / Kenner der Veden
- śāstra-jña* - die śāstras kennen / Kenner der śāstras
- loka-kr̥t* - die Welt machend / Macher der Welt
* Verbalwurzeln mit langem “ā” verkürzen auf “a” und kurzen Vokalen wird ein “t” hinzugefügt.
karmadhāraya Kompositum
Beispiel:
mahārājā: “der große König”
Vorderes Wort:
mahā, Adjektiv mahat in Komposita-Stammform - groß
Hinteres Wort:
rājā, Nominativ (nom), Singular (sg), Maskulinum (m) von rājan - der König
Das hintere Wort wird durch das vordere Wort näher bestimmt. Es ist ein König. Was für ein König? Ein großer.
Anders als beim tatpuruṣa steht beim karmadhāraya das vordere Wort in keiner Kasus-Beziehung zum Hinteren. Beide Wörter werden im gleichen Fall gedacht. Hier also im Nominativ.
mahārājā ist mit der Endung ā ein Nominativ, so dass es die Funktion des Subjekts in einem Satz übernimmt. (Hierbei handelt es sich um die maskuline Nominativ-Endung von rājan.)
Generell gilt:
Im Grunde ist ein karmadhāraya ein tatpuruṣa, bei dem beide Wörter im gleichen Fall stehen. Außerdem gibt es beim karmadhāraya mehr mögliche Wortarten und Kombinationen.
Hier einige Beispiele:
- Adjektiv+Substantiv: vr̥ddha-vyāghraḥ - alter Tiger
- Partizip+Substantiv: hata-rākṣasī - getötete Dämonin
- Zahlwort+Substantiv: tri-lokī - die Gruppe der drei Welten
- Partikel+Partizip: duṣ-kr̥tam - schlecht gemacht
- Substantiv+Adjektiv: kusuma-mr̥duḥ - zart wie eine Blume
- Substantiv+Substantiv: puruṣa-vyāghraḥ - Mann wie ein Tiger
Am häufigsten treten die ersten vier Kombinationen auf. Die Kombination aus Zahlwort und Substantiv wird auch als “dvigu” (zwei Kühe) bezeichnet. Damit ist immer eine Gruppe gemeint, die aus der angegebenen Anzahl von Elementen besteht.
karmadhārayas können Nomen als auch Beschreibungen zu anderen Satzelementen sein und verschiedene Funktionen im Satz übernehmen (Subjekt, Objekt).
dvandva Kompositum
Beispiel:
sukha-duḥkham: “Freude und Leid”
Vorderes Wort:
sukha, Neutrum, Nomen in Stammform - Freude
Hinteres Wort:
duḥkham, Nominativ (nom), Singular (sg), Neutrum (n) von - „Hände und Füße“.
Generell gilt:
dvandva heißt „Paar“ und bei diesem Typ geht es um die Aneinanderreihung von zwei oder mehr Nomen ohne ein „und“ (ca) dazwischen.
Wenn es sich nicht um eine Gruppe wie im Beispiel oben handelt, wird bei zwei Wörtern die Dual-Endung und bei mehr als zwei Wörtern die Plural-Endung verwendet. Als Genus (Geschlecht) wird das des letzten Wortes verwendet.
Hier einige Beispiele:
- Plural: gaja-siṁha-vyāghra-śr̥gālāḥ - Elefanten, Löwen, Tiger und Schakale
- Dual: deva-manuṣyau - Götter und Menschen
- Neutrum Singular: karṇa-netram - Ohren und Augen
bahuvrīhi Kompositum
Beispiel:
yata-kāmāḥ: Kontrollierte Begierden
yata-kāmo yogī: Der Yogin, durch den die Begierden kontrolliert wurden.
Das bahuvrīhi Kompositum ist yata-kāmo. Das „o“ steht für „aḥ“, es ist ein Visarga-Sandhi. Es steht im Nominativ, Singular und Maskulinum.
yogī ist das Bezugswort des bahuvrīhi Kompositums und steht ebenfalls im Nominativ, Singular und Maskulinum.
Das bahuvrīhi Kompositum beschreibt den Yogin, der nicht Teil des Kompositums ist. Es ist sozusagen ein Adjektiv oder Attribut, das sich auf den Yogin bezieht. Deshalb stimmt es auch in Kasus, Numerus und Genus mit yogī überein, obwohl es sich um mehrere Begierden handelt.
Generell gilt:
Ein bahuvrīhi Kompositum kann sowohl ein karmadhāraya als auch ein tatpuruṣa sein, aber das letzte Wort muss immer ein Substantiv sein und es beschreibt etwas, was nicht Teil des Kompositums ist. Die Endung des bahuvrīhis stimmt immer mit dem Wort überein, das es beschreibt (Bezugswort). Das gilt auch, wenn das Geschlecht (Genus) des letzten Wortes des Kompositums ursprünglich ein anderes ist (=Genuswechsel).
Es gibt auch bahuvrīhis, bei denen das Bezugswort unausgedrückt ist. Dann zeigt die Endung an, ob es sich z. B. auf eine weibliche oder männliche Person bezieht, siehe letztes Beispiel unten.
bahuvrīhis kommen häufig vor und sind nicht immer leicht zu erkennen, insbesondere wenn kein Genuswechsel vorliegt und der Zusammenhang nicht eindeutig ist.
Hier einige Beispiele:
- bahu-vrīhir deśaḥ - Das Land (deśaḥ), in dem viel (bahu) Reis (vrīhir) ist.
- dur-balaḥ siṁhaḥ - Der Löwe (siṁhaḥ), dessen Kraft (balaḥ) schlecht (dur) ist.
- candra-mukhī kanyā - Das Mädchen (kanyā), dessen Gesicht (mukhī) wie der Mond (candra) ist.
- pīta-vastrā - Sie, deren Gewand (vastrā) gelb (pīta) ist.
Das ursprüngliche Geschlecht von vastra ist Neutrum. Da hier eine weibliche Endung verwendet wird, muss es sich um ein bahuvrīhi handeln. Und es wird eine Frau beschrieben, da die Endung weiblich ist.
Die Bezeichnung des Komposita-Typs “bahuvrīhi” selbst ist ebenfalls ein solches Kompositum. Kommt es ohne Bezugswort in Maskulin Singular vor, also bahuvrīhiḥ, könnte es sich auch um einen Mann handeln, der viel Reis hat bzw. dessen Reis viel ist.
avyayībhāva Kompositum
Beispiel:
yathā-śakti: entsprechend der Kraft
Das vordere Wort ist ein nicht deklinierbares Wort. yathā ist ein Adverb und heißt “wie” oder “entsprechend”. An dieser Stelle könnte auch eine Vorsilbe (Präfix) stehen. Das hintere Wort ist ein Nomen. In diesem Fall śakti, ursprünglich Femininum, “Kraft”. Das Nomen in diesem Kompositum steht immer im Akkusativ, Singular, Neutrum - unabhängig vom ursprünglichen Genus des Wortes.
Hier noch einige Beispiele:
- anu-gaṅgam - entlang des Ganges
- upa-giri - nahe am Berg
- yathā-vidhi - entsprechend der Regel
- yāvaj-jīvam - ein Leben lang
Diese Komposita werden im Satz als Adverbien eingesetzt.
yāvaj-jīvaṁ tāpasā anu-gaṅgaṁ jīvanti I
Ein Leben lang (yāvaj-jīvaṁ) leben die Asketen entlang des Ganges (anu-gaṅgaṁ).
Zum Schluss…
Diese Erläuterungen liefern nur einen ersten Einstieg in die Kompositionslehre. Es gibt noch weitere Typen, besondere Verwendungen und irreguläre Formen von Komposita, auf die wir hier nicht näher eingehen.
Header-Bild: ChatGPT AI