Wie bist Du zum Yoga gekommen?
Bereits meine Mutter war Yogalehrerin. So kam ich schon als Kind mit dem Yoga in Kontakt. Das Zusammenkommen von Körper und Geist und die Kultivierung einer ganzheitlichen Balance faszinierten mich von Anfang an.
- und wie kamst Du dann zum Ashtanga Yoga?
Auf den ersten Blick wirkt Ashtanga Yoga sehr streng. Der Übende praktiziert jeden Tag aufs Neue immer wieder die gleiche, exakt festgelegte Übungsfolge. Doch seit meinem ersten Kontakt mit dieser Praxis erlebe ich Freiheit. So paradox es klingen mag, die festgelegte Übungsfolge gibt dem Praktizierenden die Freiheit, selbständig für sich zu üben.
Anstatt in Büchern zu blättern und Übungen für den jeweiligen Tag zu suchen, rollte ich nun einfach nur noch meine Matte aus. Denn die Praxis war bereits da. Sie wartete auf mich. Ein tiefer Atemzug verbindet mich mit ihrem magischen Energiefeld. Von hier an trägt mich der Atem mühelos von Position zu Position. Zeit und Raum lösen sich für mich auf.
Du hast dann direkt bei dem für den Ashtanga Yoga so wesentlichen Lehrer Sri K. Pattabhi Jois in Indien weiter gelernt und bist sogar ein von ihm persönlich zertifizierter Lehrer. Wie kam es dazu?
Das war ein großes Glück! Der bedeutendste Lehrer der Tradition unterrichtete damals noch. Doch das hätte mir wenig genutzt, wäre ich nicht zu dieser Zeit Student gewesen. Die langen Semesterferien gaben mir die Möglichkeit zu reisen. Zwei glückliche Umstände kamen also zusammen. So sieht für mich eine Chance aus. Ich wollte und konnte diese Gelegenheit nutzen und habe mich direkt auf die Reise nach Indien gemacht.
Du hast also alles stehen und liegen lassen?
Genau so wie ich durch meine Mutter mit dem Yoga in Kontakt kam, lernte ich viel über Yoga durch meinen Vater. Er ermunterte mich immer wieder mit einem kurzen, an ein Mantra erinnernden, Satz:
Take your Chance!
[Nutze die Gelegenheit!]
Wir alle sind auf dieser Welt für eine endliche Zeit. Unser erstes und unser letztes Gewand hat keine Taschen. Jeder Tag, jeder Atemzug ist ein Geschenk. Es gilt daher, jeden einzelnen davon zu nutzen. Das Leben bietet uns immer wieder neue Chancen. Für ein erfülltes Leben empfehle ich, diese Chancen zu erkennen, zu nutzen und zur richtigen Zeit auch wieder loszulassen.
Wie können wir solch eine Chance erkennen?
Eine Chance kommt oft ganz unauffällig. Das Leben spielt sie uns zu. Es gilt vor allem zu erkennen, welche Möglichkeiten wir in dem, was scheinbar natürlich zu uns kommt, haben. Die Schulzeit ist ein schönes Beispiel dafür. Je besser wir diesen Raum nutzen, desto mehr Freude werden wir finden. Sein Leben zu genießen beginnt damit, dass wir seine Geschenke annehmen.
Manchmal gilt es jedoch auch einen Freiraum zu erkennen und ihn dann mutig zu ergreifen. Wieder ist die Schulzeit ein wunderschönes Beispiel dafür. Ich finde, zu den Gelegenheiten, die sie uns bietet, gehört nicht nur das Lernen, sondern auch den Kaugummi an die Tafel zu schießen. Auch das macht eine erfüllte Schulzeit aus.
Und schließlich gilt es auch wieder loszulassen. Nichts schmeckt schaler als ein zu lang gekauter Kaugummi. Ich denke auch an einen Obdachlosen, den ich mit einem Bücherranzen oft vor einer Schule beobachtete. Vielleicht hatte er seine Schulzeit genossen und wäre immer noch gerne Schüler?
Manchmal im Leben öffnet sich eine Chance wie eine Tür. Es ist wichtig hindurchzugehen. Das, was davor war, ist dann Vergangenheit, das, was kommt, das neue Abenteuer. Wir können uns mit voller Energie darauf einlassen.
Das Lernen bei Pattabhi Jois war für Dich also solch eine Tür?
Pattabhi Jois eröffnete mir einen völlig neuen Zugang zum Yoga. In dieser Zeit konnte ich nicht nur meine körperliche Praxis entwickeln, sondern auch eintauchen in die Philosophie. Ich wurde Teil einer globalen Familie. Es gibt etwas, das all die verbindet, die bei Pattabhi Jois übten und bis heute den Ashtanga Yoga in die Welt tragen.
Wie war das Lernen bei Pattabhi Jois?
Pattabhi Jois verkörpert für mich einen traditionellen Yogaunterricht. Obwohl ich schon zuvor Yoga praktizierte, fing ich mit ihm nochmal von Null an. Jede Haltung, die er mir zeigte, war wie eine kleine Einweihung.
Es war für mich ein magisches Erlebnis, mit den anderen Yogis im Raum seinem Unterricht zu folgen. Unser Atem trug nicht nur unsere Bewegung, sondern war bis auf die Straße zu hören. Die Luft war feucht von unserem Schweiß. Vielleicht ist es dieser Schweiß, aus dem die Familie der Praktizierenden entstand.
Pattabhi Jois verstand es, wie ein Vater für uns zu werden. Er entfaltete für jeden auf seine Weise die Yogapraxis. Atemzug für Atemzug, Haltung für Haltung wurde die Praxis nicht nur länger, sondern führte auch immer tiefer in eine bewegte Meditation.
Du bist ein von Pattabhi Jois zertifizierter Ashtanga Yoga Lehrer. Wie war die Ausbildung bei ihm?
Für Pattabhi Jois war die eigene Praxis das Entscheidende. Er betonte immer wieder:
Ashtanga Yoga is 99% transpiration and 1% explanation!
[Ashtanga Yoga ist 99% Schwitzen und 1% Theorie]!
Als ich bei ihm die dritte von damals vier Serien des Ashtanga Yoga praktizierte, erhielt ich ein „Authorized to teach“ von ihm. Systematische Unterrichtstechniken und philosophische oder physiologische Grundlagen für das Unterrichten lernte ich anderswo.
In wieweit bist Du heute noch mit dieser Familie des Ashtanga Yoga, wie Du sie nennst, verbunden?
Vielleicht ist Ashtanga Yoga ein wenig wie Jogurt Ferment. Gibt man es in Milch, so entsteht stets Jogurt. Doch dieses schmeckt jedes Mal wieder unterschiedlich, je nach Milch.
Obwohl wir vielen Schüler gleichzeitig und im selben Raum bei Pattabhi Jois übten, konnte jeder etwas anderes mitnehmen. Für den einen war die Reise körperlicher, für den anderen meditativer. Der eine tauchte ein in die magische Symphonie aus Atem und Bewegung, ein anderer war mehr von der heiligen Geometrie der Haltungen selbst angesprochen.
Dazu kommt der unterschiedliche Hintergrund, den jeder Schüler mitbrachte. Wer ein Musiker ist, hört überall Töne, wer ein Zeichner ist, sieht überall Kontraste, ein Bildhauer erkennt Formen.
So kommt es, dass jeder Schüler den Ashtanga Yoga ein wenig anders weiterträgt.
Was macht das Besondere an der von Dir begründeten AYI Methode aus?
Als Arzt möchte ich die Gesundheit meiner Schüler fördern. Die AYI Methode vermittelt daher die Haltungen und Bewegungen der Ashtanga Übungsfolgen nach einem systematischen und bewegungsphysiologischen Ansatz. Individuelle Anpassungen, Alignment und Yogatherapie sind wichtige Aspekte.
Als Wissenschaftler ist mir eine systematische und gut begründete Vorgehensweise sehr wichtig. In den Ausbildungen der AYI Methode legen wir daher viel Wert auf moderne Didaktik. Wer die vom Atem und Bewegung getragene Harmonie systematisch verstehen und lernen möchte, sie weiterzugeben, ist hier richtig.
Vielen Dank für das Gespräch.
Und viel Freude beim Üben.
Hintergrund: Dieses Interview entstand im Rahmen der Abschlussarbeit einer Yogalehrer Ausbildung. Alexandra beschäftigt sich mit dem Yoga nach T. Krishnamacharya und seiner vier – aus ihrer Sicht - bedeutendsten Schüler, T.K.V. Desikachar, Indra Devi, B.K.S. Iyengar und Pattabhi Jois.
Interview: Alexandra Wehinger
Autor: Dr. Ronald Steiner
Titelbild: Tom Rosenthal
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Martina Neues
am 23.01.2024Wer den Beitrag liest und danach den Weg des Yoga nicht gehen möchte, der ist es leider selber schuld. Wer den Beitrag liest und danach den Weg des Yoga nicht gehen möchte, der ist es leider selber schuld.
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