Das dritte Kapitel der Hatha-Yoga Pradipika von Svatmarama. Hier geht es vor allem um Mudra und Bandha, aber auch die Oli-Techniken.

Hatha Yoga Pradipika

tritiyopadeshah

Satz 109

ganga-yamunayor madhye bala-randam tapasvinim |"
balatkarena grihniyat tad vishnoh paramam padam ||109||

गङ्गायमुनयोर् मध्ये बालरण्डां तपस्विनीम् ।"
बलात्कारेण गृह्णीयात् तद् विष्णोः परमं पदम् ॥१०९॥

gaṅgā-yamunayor madhye bāla-raṇḍāṁ tapasvinīm ।"
balātkāreṇa gr̥hṇīyāt tad viṣṇoḥ paramaṁ padam ॥109॥

In der Mitte zwischen dem Ganga- und Yamuna-Fluss soll die junge Asketen-Witwe |
mit Gewalt gefangen werden. Dieses ist der beste Fußabdruck von Vishnu. ||109||


gaṅgā = Ganga (ein Heiliger Fluss)
yamunayaḥ = Yamuna (ein Heiliger Fluss)
madhye = (loc.sg.) in der Mitte
bāla = Kind, Jugendlicher
raṇḍām = Witwe, Hure
tapasvinīm = (f. acc. sg.) asketische

balātkāreṇa = mit Gewalt, mit Kraft
gr̥hṇīyāt = (opt. ac. sg. 3) fangen, überwältigen, gefangen nehmen
tat = dieses
viṣṇoḥ = (g. sg. m) von Vishnu
paramam = höchster, vergnüglichster, bester
padam = Fußabdruck, Schritt, Fuß, Pfad

Wie oft in der Hatha-Yoga Pradipika, so stößt auch in diesem Vers die rohe, fast obszöne Sprache den Leser zunächst ab. Sie hindert uns die dahinter verborgene Analogie zu verstehen:

In der indischen Vorstellung jener Zeit war die Witwe schuldig am Tod ihres Ehemanns. Sie saugte die Lebensenergie aus ihm. Sehen wir aber die Kundalini, die von ihrem Mann (Shiva) getrennt ist, als die Kraft der physischen Schöpfung selbst die sich aus dem Absoluten (Shiva) herauslöste, dann erkennen wir die Schöpfungsmythologie der Tantra-Philosophie. Im Schöfpungsakt kondensiert die Energie (Kundalini) zum Makro- und Mikrokosmos. Das Absolute (Shiva) bleibt unverändert. So entstand die gesamte physische Welt. Am Ende sehnt sich die Schöpfung (Kundalini) jedoch nach Vereinigung mit dem Absoluten (Shiva) von dem sie getrennt ist. Der Vorgang der Wiedervereinigung ist der Weg des Yoga und führt zur Erleuchtung.

So ist die Schöfpung (Kundalini) einerseits die Fessel, die uns von der Widervereinigung mit dem Absoluten (Shiva) zurückhält. Andererseits auch der Schlüssel für das Einheitserlebnis. Nach der Vorstellung des Tantra kann Erleuchtung nur mit und in der Schöpfung erfahren werden.

Der Vorgang der Wiedervereinigung der Schöpfung und des Absolutem ist eine tief greifende Veränderung im menschlichen Bewußtsein. Eine radikal neue Weise die Welt zu sehen. Für diesen Schritt brauchen wir Entschlossenheit, Mut und Kraft. Daher verwendet Svatmarama das Bild des gewaltvollen Fangens der Kundalini. Ein sanftes wech-küssen würde nicht reichen.